Abschrift
Moderatorin:
„Nun also auch nach Leipzig: Rosa-Luxemburg-Karl-Liebknecht-Demonstration. Im letzten Jahr in Berlin, in diesem Jahr kam es in Leipzig zu Auseinandersetzungen. Während sich im vergangenen Jahr in Berlin Aktivisten verschiedenster Gruppen mit eigenen Slogans an der offiziellen Demonstration beteiligen wollten, sollte in Leipzig dieses Jahr eine eigene unabhängige Demonstration stattfinden. Einen Aufruf an alle Bürger der Stadt Leipzig formulierte eine Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft.
Die folgenden Aufnahmen sind nicht aus Leipzig, sondern stammen von einer Solidaritätsveranstaltung in Berlin. Dort wurde der Demonstrationsaufruf verlesen.“
O-Ton:
„Aufruf an alle Bürger der Stadt Leipzig!
Jahrestag der Ermordung zweier Arbeiterführer, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Und wieder werden Tausende Werktätige verpflichtet, einer Kundgebung beizuwohnen, bei der die Redner die jährlich wiederkehrenden Ansprachen halten. Beide Arbeiterführer traten für die allumfassenden politischen und ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse ein, so auch für ein unbehindertes Vereins- und Versammlungsleben, für eine freie, ungehemmte Presse, für allgemeine Wahlen und den freien Meinungskampf der Menschen. Menschen, die dieses Vermächtnis unter Berufung auf die Verfassung unseres Landes nach 40 Jahren DDR-Geschichte in Anspruch nehmen, werden immer wieder kriminalisiert. Der Tag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht soll uns Anlass sein, weiter für eine Demokratisierung unseres sozialistischen Staates einzutreten. Es ist an der Zeit, mutig und offen unsere Meinung zu sagen. Schluss mit der uns lähmenden Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit! Lassen Sie uns gemeinsam eintreten für das Recht auf freie Meinungsäußerung, für die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, für die Pressefreiheit und gegen das Verbot der Zeitschrift Sputnik und kritischer sowjetischer Filme!
Um nicht die offizielle Kundgebung in ihrem eigenen Anliegen zu stören, rufen wir Sie auf, gemäß Artikel 27 und 28 der Verfassung sich am 15. Januar 1989 um 16 Uhr auf dem Markt vor dem Alten Rathaus zu versammeln. Abschließend ist ein Schweigemarsch mit Kerzen zu der Gedenkstätte in der Braustraße vorgesehen.
Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im Gelobten Land, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist.` (Rosa Luxemburg).“
Moderatorin:
„Soweit also der Demonstrationsaufruf. Im Vorfeld der eigentlichen Demonstration kam es zu Verhaftungen. Insgesamt wurden vom 12. bis 16. Januar zwölf Leute verhaftet, weil sie an der Vorbereitung beziehungsweise Durchführung der Demonstration beteiligt waren. Während der Demonstration, an der sich ca. 900 Leute beteiligten, wurde eine Kundgebung abgehalten. Jemand bestieg eine Mauer und sprach.“
O-Ton:
„Wir haben uns heute hier versammelt, um an den 70. Jahrestag der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zu erinnern. Sie wurden ermordet, weil sie sich nachdrücklich für gesellschaftlichen Fortschritt einsetzten. Wir wollen ihrer mit einem Schweigemarsch gedenken. Und bevor wir schweigen, werden wir reden. Und zwar von den erneuten staatlichen Eingriffen in die Freiheit der Persönlichkeit.
Im Vorfeld dieser Veranstaltung kam es zu 11 Verhaftungen von Mitgliedern der Arbeitsgruppe Gerechtigkeit und der Gruppe Leben. Wir protestieren scharf dagegen und fordern die Einstellung der Ermittlungsverfahren! Des Weiteren wenden wir uns gegen die erfolgten Hausdurchsuchungen und zahlreichen Zuführungen. Dieses Vorgehen verdeutlicht, dass zurzeit grundlegende Artikel der Verfassung außer Kraft gesetzt sind. Es betrifft im Besonderen Andersdenkende, die sich für Reformen in der erstarrten Gesellschaftsstruktur der DDR einsetzen. Ein Sozialismus ist ohne die uneingeschränkte Meinungspresse und Versammlungsfreiheit nicht möglich. Dies ist und blieb eine der zentralen Forderungen Rosa Luxemburgs. Ihrer, Karl Liebknechts und aller anderen Verfolgten wollen wir heute gedenken.“
Moderatorin:
„Ja, anschließend an diese Rede versuchten die Kundgebungsteilnehmer noch, bis zur Liebknecht-Gedenkstätte zu kommen, doch die Polizei griff ein. Mindestens 80 Leute wurden auf LKWs verfrachtet und abtransportiert. Nur wenige erreichten die Gedenkstätte.“
Quelle: Radio Glasnost, Januar 1989