Fluchthilfe
In den Jahren nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 werden die Grenzanlagen entlang der innerdeutschen Grenze ausgebaut und immer undurchdringlicher. Trotz der Teilung Deutschlands fühlen sich die Menschen in Ost und West weiterhin zusammengehörig. Besonders deutlich wird dies bei der Fluchthilfe. Menschen aus Westdeutschland und West-Berlin riskieren dafür ihre Freiheit oder sogar ihr Leben.
In den unmittelbaren Monaten und Jahren nach dem Bau der Mauer ist der Anteil von Studenten der Westberliner Universitäten unter den Fluchthelfern besonders groß. Sie haben über Jahre an der Freien und der Technischen Universität zusammen mit Kommilitonen aus der DDR und Ost-Berlin studiert, die in Ost-Berlin oder der DDR wohnen, aber in West-Berlin studieren, weil ihnen in der DDR ein Studium verwehrt worden ist – sogenannte Grenzgänger.
Zunächst geht es darum, diesen Kommilitonen zu helfen. Da in West-Berlin polizeilich gemeldete Studenten schon zehn Tage nach der Abriegelung der DDR Ost-Berlin nicht mehr betreten dürfen, nehmen Studenten mit westdeutschen Pässen und ausländische Studenten als Kuriere die Verbindungen zu den Kommilitonen in Ost-Berlin auf. Auch stellen sie, gerade in den ersten Tagen nach dem Mauerbau, vielfach ihre Pässe zur Verfügung. Diese nutzen die Kommilitonen aus der DDR zur Flucht, indem sie zum Beispiel die Passbilder austauschen. Einen anderen Weg finden Westberliner Oberschüler. Sie schleusen Mitschüler aus Ost-Berlin, die in West-Berlin die Schule besucht haben, durch die stinkenden Abwasserkanäle der Stadt, bis auch dieser Fluchtweg entdeckt wird.
Von Woche zu Woche werden die Grenzkontrollen schärfer, die Grenzanlagen ausgebaut. Es müssen neue, den DDR-Grenzern noch nicht bekannte Fluchtwege gefunden werden. Zudem wächst mit jedem erfolgreichen Fluchtunternehmen die Zahl derjenigen, die die Mauer überwinden wollen. Denn jeder Flüchtling kennt Freunde und Verwandte, die ihrerseits darauf hoffen, nachgeholt zu werden.
Wagemut und Fantasie sind angesagt, um trotz einer tagtäglich dichter werdenden und strenger kontrollierten Grenze Fluchtmöglichkeiten zu erschließen: über und unter der Erde, über und unter Wasser – von der Spree bis zur Ostsee – und später per Seil, Ballon und Flugzeug durch die Luft. Und je ausgeklügelter die Grenzkontrollen der DDR werden, umso raffinierter und aufwendiger werden die Methoden der Fluchthelfer.
Autos zu Fluchtautos umzubauen, ausländische Diplomaten als Fluchthelfer zu gewinnen oder über Monate einen Tunnel zu graben – all dies kostet Geld. Und so entwickelt sich neben der Fluchthilfe aus Solidarität mit den durch den Mauerbau eingesperrten Menschen nach und nach auch eine kommerzielle Fluchthilfe. Doch bis zum Ende der DDR sind in erster Linie Fluchthelfer aktiv, die Familienangehörige, Freunde und Freundinnen den Weg in die Freiheit möglich machen.
Zu den eindrucksvollsten Fluchtunternehmen in den ersten Jahren nach dem Mauerbau zählt in Berlin das Anlegen von Tunneln. Etwa 70 werden begonnen – nicht alle vollendet, weil Wasser- und Erdeinbrüche den Weiterbau verhindern. Trotz des Verrats einiger Fluchttunnel gelangen über 300 Menschen auf diesem Wege nach West-Berlin. Bis Mitte der 1960er Jahre hat die DDR ihr Kontrollsystem an den Grenzen so ausgebaut, dass es unmöglich wird, weiterhin auf diesem Weg Menschen zur Flucht zu verhelfen.
Die DDR, die 1963 beginnt, politische Häftlinge wie Stahl aus Eisenhüttenstadt oder Obst aus Werder/Havel gegen harte Devisen zu verkaufen, nennt hingegen die Fluchthilfe „Menschenhandel“. In mehreren großen Schauprozessen und noch häufiger in Geheimverfahren werden Fluchthelfer zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Gegen den früheren DDR-Radsportmeister Harry Seidel spricht 1962 das Oberste Gericht der DDR eine lebenslangen Haftstrafe aus. Auf einen anderen Fluchthelfer, Wolfgang Welsch, verübt das Ministerium für Staatssicherheit Mordanschläge.
Zitierempfehlung: „Fluchthilfe“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145455