„Abstimmung mit den Füßen“ – Republikflucht, Ausreise, Freikauf
Bis zum Bau der Mauer am 13. August 1961 haben die Menschen in der DDR dank der offenen Grenzen die realistische Möglichkeit, die DDR zu verlassen. In den Jahren zwischen 1949 und 1961 machen davon Hunderttausende Gebrauch und flüchten in Richtung Bundesrepublik, um dort ein neues Leben zu beginnen. Es ist eine „Abstimmung mit den Füßen“ über das politische System der DDR. Die SED spricht von Republikflucht und bezeichnet die Flüchtlinge als Verräter und Saboteure.
Auffällig sind die jährlichen, in manchen Zeiten die monatlichen Schwankungen in der Zahl der Flüchtigen. Je radikaler die SED bis zum Sommer 1961 den Aufbau des Sozialismus vorantreibt, umso größer sind die Flüchtlingswellen. In Phasen innenpolitischer Liberalisierung gehen die Flüchtlingszahlen deutlich zurück. Denn es ist ein schwerer Entschluss, die vertraute Heimat, die Familie und Freunde, Besitztum und einen gesicherten Arbeitsplatz zu verlassen. Wie sehr die Menschen außer Landes getrieben werden, zeigt sich besonders in den Monaten vor und nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 und während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft im Frühjahr 1960.
Rund 2,7 Mio. DDR-Bewohner werden zwischen 1949 und dem 13. August 1961 im Notaufnahmeverfahren der Bundesrepublik als Flüchtlinge registriert. Diesem Verfahren muss sich jeder Flüchtling unterziehen, sofern er in der Bundesrepublik staatliche Hilfen bei der Eingliederung in Anspruch nehmen möchte. Wer nicht auf staatliche Hilfe nach der Flucht angewiesen ist, weil ihn Freunde und Verwandte in der Bundesrepublik beim Neuanfang unterstützen, verzichtet auf das bürokratische Aufnahmeverfahren und wird daher nicht von der Statistik erfasst. Das bedeutet, dass die Zahl derjenigen, die zwischen 1949 und dem Mauerbau die DDR verlassen, noch weit höher ist als die Zahl der registrierten Flüchtlinge.
Zum Entsetzen der SED sind es gerade junge Menschen, die massenhaft das Land verlassen. Ihr Anteil (Flüchtlinge unter 25 Jahren) liegt bei etwa 50 Prozent. Sie gehen, obwohl man sie von Kindesbeinen an in der Schule durch die Jungen Pioniere und die Freie Deutsche Jugend (FDJ) im sozialistischen Sinne erzieht.
Die Bundesrepublik hat unterdessen Probleme, die vielen Flüchtlinge aufzunehmen. Und so fordert am 10. August 1961 der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, die DDR-Bevölkerung dazu auf, in der Heimat zu bleiben.
Die DDR droht auszubluten. Der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961 und der weitere Ausbau der innerdeutschen Grenze sind der einzige Ausweg, um die SED-Herrschaft und damit die Existenz der DDR zu retten. Zwangsläufig geht die Zahl der Flüchtlinge deutlich zurück. Große Teile der eingemauerten Bevölkerung arrangieren sich mit dem aufgezwungenen politischen System und seinen politischen Ritualen, so lange es keine Hoffnung gibt, etwas zu ändern. Wie brüchig dieses Arrangement und wie wenig es ein Ausdruck der politischen Zustimmung ist, zeigt sich ab Sommer 1989. Sofort nachdem es die Chance gibt, ohne Gefahr für Leib und Leben das Land zu verlassen, machen sich Zehntausende auf den Weg, um über die sozialistischen Nachbarstaaten der DDR den Rücken zu kehren.
Aber auch zuvor haben Hunderttausende nach dem Mauerbau jede nur denkbare Möglichkeit genutzt, in die Bundesrepublik zu gelangen. Am einfachsten ist es für Menschen im Rentenalter. Sie dürfen in der Regel die DDR legal verlassen, da sie keinen Beitrag mehr zum Aufbau des Sozialismus leisten und nur Kosten verursachen. Andere, meist Künstler, Wissenschaftler, Ingenieure, Sportler oder Geschäftsleute, nutzen genehmigte Dienstreisen ins westliche Ausland, um nicht zurückzukehren.
1975 unterzeichnet die DDR die KSZE-Schlussakte von Helsinki und erkennt damit auch das Recht auf Freizügigkeit an. Zunehmend berufen sich DDR-Bewohner auf diese Akte und stellen einen Antrag auf ständige Ausreise und auf Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Die Flut von Ausreiseantragstellern wird in den 1970er und 1980er Jahren zum schwierigsten innenpolitischen Problem der SED. Nicht wenige Ausreiseantragsteller nehmen bewusst in Kauf, für ein bis zwei Jahre wegen eines politischen Delikts in Haft zu gehen in der Erwartung, anschließend von der Bundesrepublik freigekauft zu werden. Neben strafrechtlichen Sanktionen entwickeln SED und MfS ein ausgefeiltes System an repressiven Maßnahmen, mit denen Bürger abgeschreckt werden sollen, Ausreiseanträge zu stellen respektive dazu bewegt werden sollen, Anträge zurückzuziehen. Einschließlich der von der Bundesrepublik freigekauften politischen Häftlinge – zwischen 1963 und 1989 sind es ca. 34.000 – kommen von 1977 bis Ende Juni 1989 jedoch mehr als 176.000 DDR-Bewohner auf diesem Wege in die Bundesrepublik.
Den dramatischsten und gefährlichsten Weg gehen die „Sperrbrecher“. Damit sind Personen gemeint, die mit oder ohne Hilfe westlicher Fluchthelfer versuchen, die immer undurchdringlicher werdenden Grenzanlagen und Grenzübergänge zu überwinden. Für die Zeit zwischen dem 13. August 1961 und Ende 1988 sind das ca. 40.000 Menschen.
Strafverfahren zur Ahndung von Fluchtversuchen, zur Bestrafung von Fluchthelfern und zur strafrechtlichen Abwehr von Ausreiseanträgen machen seit dem Mauerbau mehr als zwei Drittel aller politischen Strafverfahren aus. Mit dem sozialistischen Strafgesetzbuch von 1968 wird ein eigener Straftatbestand zum ungesetzlichen Grenzübertritt (§ 213 StGB) geschaffen, um Fluchtversuche und Fluchthilfe abzuurteilen. Durch eine Neufassung des Artikels im Jahre 1979 drohen bis zu acht Jahre Freiheitsentzug.
Doch noch größer ist die Gefahr, beim Fluchtversuch getötet zu werden. Allein an der Berliner Mauer fallen dem tödlichen Grenzregime mindestens 136 Menschen zum Opfer – Flüchtlinge, Fluchthelfer und DDR-Grenzer; weitaus mehr werden durch Schüsse oder Minen schwer verletzt. Insgesamt wird die Zahl der Todesopfer infolge von Fluchtversuchen auf über 1.000 geschätzt.
Alles in allem verlassen zwischen 1949 und 1989 ca. 3,8 Mio. DDR-Bewohner ihre Heimat – legal oder illegal.
Zitierempfehlung: „Republikflucht“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145360