Die ganze DDR protestiert gegen Biermanns Ausbürgerung
Die DDR-Bevölkerung nimmt die politische Ausschaltung und Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 nicht tatenlos hin. An dieses ungerechte Straf- und Druckmittel erinnern sich manche Menschen noch aus dem Dritten Reich. Viele empfinden die Reaktion des Staates als falsch und überzogen. Die SED-Führung unterschätzt die Folgen ihrer Entscheidung: Denn Wolf Biermann und seine Lieder lernen die meisten DDR-Bürger erst durch die Ausbürgerung und das von der ARD ausgestrahlte Konzert kennen. Und so wird nicht nur in intellektuellen Kreisen Protest laut.
Besonders Schüler und Studierende verurteilen das Verhalten des Staates. Die Stasi aktiviert ihre Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), um ein Stimmungsbild zu ermitteln – beispielsweise im Bezirk Magdeburg. Ein internes Papier stellt fest, dass rund 70 Prozent der bespitzelten Schüler und Studierenden die Entscheidung der DDR-Regierung zweifelhaft finden.
Die Ausbürgerung Wolf Biermanns erinnert an Nazi-Methoden
Am 15. Dezember 1976 stellt die Stasi einen ersten Überblick über die „feindlichen Pläne, Absichten und Aktivitäten im Zusammenhang mit den Vorgängen um Biermann, Havemann u.a.“ zusammen (Bildergalerie). Insgesamt werden landesweit 457 „feindliche Aktivitäten“ gemeldet. Nicht nur in den großen Städten, sondern auch in kleinen Orte wie Nauen (bei Berlin) stehen Menschen gegen das Unrecht auf. Anders als die protestierenden Künstler stehen die namenlosen DDR-Bürger aber nicht unter dem Schutz, den die Prominenten aufgrund der internationalen Aufmerksamkeit genießen. Auf ihre Protestaktionen folgen meist Verhaftungen und Zwangsmaßnahmen.
Auch unter systemtreuen Genossen wird das Thema Biermann heiß diskutiert. So manche Parteiversammlung wird plötzlich zu einer staatskritischen Veranstaltung. Viele Berichte von IM befassen sich mit den Diskussionen unter Studierenden und Lehrlingen. Dort heißt es unter anderem: „Unter dem ingenieurtechnischen Personal des VEB Tiefbau wird die Frage gestellt, warum wir als DDR zu schwach sind, um nicht einen Biermann zu ertragen. Biermann hätte durchaus Wahrheiten gesagt. Sie stehen nicht hinter Biermann, sondern erkennen die Haltung an, dass er bestimmte Mängel angesprochen hat.“
In der FDJ-Gruppe der Berliner Charité, dem großen Berliner Krankenhaus, sollen Unterschriften gesammelt werden, um die Zustimmung zur Ausbürgerung auszudrücken. Doch einige Mitglieder widersprechen: „Als der FDJ-Sekretär den Vorschlag unterbreitete, im Namen der FDJ-Gruppe zu unterschreiben, protestierten diese sechs FDJler mit aller Entschiedenheit dagegen.“ Über Diskussionen in der Akademie der Wissenschaften berichtet ein Spitzel: „Die Ausbürgerung wird von einem beträchtlichen Teil der Mitarbeiter (auch Genossen) als unbesonnen und folgenschwer bezeichnet. Mit der Ausbürgerung selbst ist nur ein geringer Teil einverstanden.“
Zitierempfehlung: „Die ganze DDR protestiert gegen Biermanns Ausbürgerung“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145339