„Die Akten gehören uns!“ – die zweite Besetzung der ehemaligen Stasi-Zentrale im September 1990
Dienstag, 4. September 1990: In kleinen Gruppen betreten mehrere Personen die ehemalige Stasi-Zentrale in Berlin Lichtenberg. Ihr Ziel ist „Haus 7“. Von hier aus hatte die Hauptabteilung XX in den 1980er Jahren die oppositionelle Szene bekämpft. Die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler wollen in den Westflügel des Gebäudes. Dort gibt es einen Zugang zum Archiv der Staatssicherheit. Sie alle warten auf einen bestimmten Moment: dass sich die Eingangstür öffnet und Henry Leide (25) sie mit seiner kräftigen Statur und einem Holzkeil blockiert. Als es soweit ist, rennen alle los, um in das Gebäude zu gelangen. Nicht alle schaffen es, sich im 3. Stock zu verbarrikadieren. Sie werden dort über drei Wochen als Besetzerinnen und Besetzer auszuharren und sogar in einen Hungerstreik treten.
Wie kommt es zu dieser Aktion? Bereits ab Dezember 1989 haben Bürger in der ganzen DDR Stasi-Objekte besetzt, um die Vernichtung jener Akten zu stoppen, in denen die Stasi so vieles gesammelt hat. Vielerorts entstehen Bürgerkomitees, die die Auflösung der Stasi vorantreiben. Offen ist aber die Frage, wie künftig der Zugang zu den Stasi-Akten geregelt werden soll. Die Diskussion um die Akten begleitet auch den Weg zur deutschen Einheit. Nach über 40 Jahren der Teilung gilt es schließlich nicht nur, zwei gegensätzliche Systeme zu vereinen, sondern auch die Hinterlassenschaften der SED-Diktatur zu verwalten. Denn die Akten geben tiefe Einblicke darin, wie umfangreich Bürger im Alltag der kommunistischen Diktatur überwacht und unterdrückt worden sind. Sie dokumentieren, wie tief hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter in ihr Privatleben eingedrungen sind und enthalten teilweise intimste Details aus ihrem Leben. Aus Sicht vieler Betroffener bedurften diese sensiblen Informationen einer gesonderten Behandlung und sollten auch nicht in die Hände westlicher Nachrichtendienste fallen. Die Akten sind zudem wichtige Quellen für die Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Am 24. August 1990 verabschiedet die Volkskammer der DDR ein Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS und verbietet damit, dass weitere MfS-Akten vernichtet werden. Sie sollen stattdessen in gesonderten Archiven mit entsprechenden Beauftragten in den sogenannten neuen Bundesländern aufbewahrt und aufgearbeitet werden, um sowohl die historische und politische als auch die juristische Aufarbeitung der Stasi-Tätigkeit zu gewährleisten und zu fördern. Betroffenen soll ein Auskunftsrecht über die Unterlagen zu ihrer Person, aber keine persönliche Akteneinsicht gewährt werden.
Ende August 1990 wird bekannt, dass sowohl die Regierung der Bundesrepublik als auch die der DDR nicht beabsichtigen, dieses Gesetz als fortgeltendes Recht in den Einigungsvertrag aufzunehmen. Laut Staatssekretär Eberhard Stief sei es für Bonn „nicht konsensfähig“. Die Akten sollen nicht gesondert behandelt, sondern in die Bestände des Bundesarchivs integriert werden – verbunden mit jahrzehntelangen Sperrfristen. Für viele Betroffene, die unter der Überwachung und Repression durch die Staatssicherheit zu leiden hatten, ist dies ein inakzeptables Vorhaben. Es gibt zwar Proteste aus der Volkskammer, die nach der Wahl am 18. März 1990 als frei gewähltes Parlament den Willen der DDR-Bevölkerung vertritt, aber die Regierungen beider deutscher Staaten halten an ihrer Linie fest.
In Reaktion auf diese politische Entwicklung verschaffen sich am 4. September 1990 mehr als 20 Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen Zugang zur ehemaligen Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße. Unter denjenigen, die sich in der 3. Etage verbarrikadieren können, befinden sich viele junge Oppositionelle wie Till Böttcher (20), Frank Ebert (20) oder Christian Halbrock (26) sowie die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler Bärbel Bohley, Katja Havemann oder Reinhard Schult. Gegen sie und die anderen Besetzerinnen und Besetzer erstattet Günter Eichhorn (Leiter des Staatlichen Komitees zur Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS) Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch. Dies geschieht auch auf Initiative von Peter-Michael Diestel (amtierender DDR-Innenminister). Er wird ebenso wie Ministerpräsident Lothar de Maizière im Laufe des Jahres unter anderem mit dem Argument, es gäbe sonst „Mord und Totschlag“ in der Bevölkerung, als Gegner der Aktenöffnung bekannt. Die Volkspolizei hat bereits begonnen, die Barrikaden zu beseitigen. Eine Räumung kann die Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl aber noch verhindern, indem sie zwischen den Besetzenden und den staatlichen Stellen vermittelt. Die Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen willigen ein, in Anwesenheit von Medienvertretern über ihre Anliegen zu verhandeln.
Zu den zentralen Forderungen der Besetzerinnen und Besetzer gehört unter anderem:
— die unmittelbare Aufnahme des Volkskammergesetzes zum Umgang mit den personenbezogenen Daten vom 24. August sowie eines Rehabilitierungsgesetzes für die Opfer der Staatssicherheit in den Einigungsvertrag
— der Verbleib der Stasi-Akten auf dem Gebiet der sogenannten neuen Bundesländer mit entsprechenden Beauftragten unabhängig von den Bestimmungen des Bundesarchivs
— die Zugänglichkeit der Stasi-Akten für die historische und juristische Aufarbeitung
— die Herausgabe der personenbezogenen Akten an die Betroffenen
— kein Zugang für ehemalige Stasi-Mitarbeiter und Angehörige anderer Geheimdienste zu den Akten
— und die Ablösung Peter-Michael Diestels als Innenminister.
Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, treten die Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen ab dem 12. September in einen unbefristeten Hungerstreik. Dieser endet erst mit der Ende der Besetzung am 28. September 1990. Um die Besetzerinnen und Besetzer zu unterstützen, organisieren Bürgerrechtler wie Tom Sello und Wolfgang Rüddenklau vor der ehemaligen Stasi-Zentrale eine Mahnwache. Täglich rufen sie unter dem Motto „Die Akten gehören uns“ zur Demonstration vor dem Eingang in der Ruschestraße auf. Die Mahnwache ist eine wichtige Schnittstelle, um zusätzliche Öffentlichkeit für die Forderungen der Besetzer und Besetzerinnen herzustellen. Dazu tragen auch Auftritte von prominenten Künstlerinnen und Künstlern wie Tamara Danz oder der Band Pankow bei. Der Liedermacher Wolf Biermann gibt am 9. September 1990 nicht nur ein Konzert, sondern ist bereits am zweiten Tag zu den Besetzerinnen und Besetzern gestoßen, um ihre Forderungen zu unterstützten.
DDR-weit solidarisieren sich viele Bürger mit den Besetzern und Besetzerinnen, indem sie wie in Erfurt ebenfalls Mahnwachen veranstalten bzw. demonstrieren oder sich wie in Halle dem Hungerstreik anschließen. Laut Bärbel Bohley unterstützen innerhalb von 14 Tagen 50.000 Menschen per Unterschrift die Forderungen. Neben individuellen Schreiben drücken auch Bürgerkomitees, Initiativen sowie Vertreter der Parteien in Ost und West in Zuschriften ihre Solidarität mit der Aktion aus. Zudem suchen west- und ostdeutsche Politikerinnen und Politiker die Besetzer auf dem Stasi-Gelände auf, so zum Beispiel der SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, die Grünen-Bundestagsabgeordneten Petra Kelly und Gert Bastian und Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper sowie Vertreter der Volkskammerfraktionen wie Hansjoachim Walther (DSU), Joachim Gauck (Bündnis 90), Wolfgang Thierse (SPD) oder Gregor Gysi (PDS).
Der vielseitige Protest zeigt Wirkung. Die Regierungen der DDR und der Bundesrepublik stimmen schließlich einem Verbleib der Akten in Ostdeutschland zu. Laut der entsprechenden Vereinbarung vom 18. September 1990 zum Einigungsvertrag soll die „sichere Verwahrung, Archivierung und Nutzung der Unterlagen zentral und regional erfolgen“. Ein Sonderbeauftragter soll eine Benutzerordnung für den Umgang mit den Akten entwickeln, die auch „Inhalt, Art und Umfang der Beratung und Unterstützung durch die Landesbeauftragten näher bestimmt“. Außerdem soll nach dem Beitritt am 3. Oktober 1990 unmittelbar mit der Gesetzgebungsarbeit auf Grundlage des Volkskammergesetzes und des Einigungsvertrages begonnen werden.
Am 20. September stimmen sowohl die Volkskammer der DDR als auch der Deutsche Bundestag dem Vertragskonvolut zur deutschen Einheit zu. Für die Besetzerinnen und Besetzer in der Normannenstraße geht die Vereinbarung vom 18. September aber nicht weit genug. Sechs der Besetzer verschaffen sich am Tag der Abstimmung Zutritt zum Plenarsaal der Volkskammer. Unter ihnen ist auch Reinhard Schult, der in einer Sitzungspause stellvertretend das Anliegen der Besetzerinnen und Besetzer formuliert. Diejenigen, die von Überwachungsmaßnahmen des MfS betroffen waren, sollen nicht nur ein Recht auf Auskunft, sondern auch auf Aushändigung ihrer Akte haben. Weiterhin kritisiert er, dass das Volkskammergesetz vom 24. August lediglich eine separate Ergänzung zum Einigungsvertrag darstellt. Ebenso wie ein Rehabilitierungsgesetz wird es nicht unmittelbarer Bestandteil des Einigungsvertrages. Der Protest richtet sich außerdem gegen Volkskammerabgeordnete mit MfS-Vergangenheit. Die Forderung der Besetzer, dass deren Verstrickungen offengelegt werden müssten, erfüllt sich erst zum Ende der Besetzung. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit verliest der stellvertretende Parlamentspräsident Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt) schließlich am 28. September 1990 deren Namen, soweit sie bekannt sind.
Unmittelbar nach der deutschen Einheit übernimmt Joachim Gauck die Position des Sonder-beauftragten der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen. Der einstige Rostocker Pastor ist in der Volkskammer bereits Vorsitzender des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS gewesen und nimmt nun die Arbeit auf. Sein Mitarbeiterstab arbeitet teilweise in der zentralen Berliner Behörde und teilweise in den Außenstellen der Länder. Das sogenannte Stasi-Unterlagen-Gesetz (Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik — StUG) tritt im Dezember 1991 in Kraft. Es greift die vorangegangenen Diskussionen auf und regelt seitdem den besonderen Umgang mit den Stasi-Akten, unter anderem auch die Möglichkeit der persönlichen Akteneinsicht.
Zitierempfehlung: "`Die Akten gehören uns!´ – die zweite Besetzung der ehemaligen Stasi-Zentrale im September 1990", hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e. V., letzte Änderung Februar 2023, www.jugendopposition.de/themen/154362/die-akten-gehoeren-uns