Verweigerung der Reiseerlaubnis
Ein wichtiger Grund für die große Zahl der Ausreiseanträge ist die fehlende Reisefreiheit für DDR-Bürger. Während ihre westdeutschen Altersgefährten in den Sommerferien nach Italien oder Portugal fahren, als Au-Pair nach Frankreich gehen oder zum Schüleraustausch in die USA fliegen, dürfen sich die Jugendlichen in der DDR ihre Reiseziele nicht selbst aussuchen. Zwischen den 1960er und 1980er Jahren gibt es für sie nur wenige Alternativen für einen Aufenthalt außerhalb der DDR.
Weitgehend unbeschränkte Reisemöglichkeiten bestehen in die Tschechoslowakei, nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien. Für eine Reise in die Volksrepublik Polen benötigt man seit der Kriegsrechtsverhängung von 1981 ein Visum, das nur aufwändig zu beschaffen ist. Reisen zum großen Bruder, in die Sowjetunion, sind streng reglementiert, Individualtourismus ist so gut wie ausgeschlossen. Eine große Hürde für Auslandsaufenthalte sind vor allem die Finanzen, denn ein freier Umtausch von DDR-Mark in andere Währungen ist nicht möglich. Das gilt auch für die sozialistischen Bruderstaaten.
Die wenigsten Jugendlichen können sich eine Reise leisten
Reisen in den Westen – oder wie es offiziell heißt, in den „nichtsozialistischen Wirtschaftsraum“ – sind für DDR-Bürger in der Regel nicht möglich. Rentner, sofern sie keine „Geheimnisträger“ sind, dürfen seit 1964 unter bestimmten Bedingungen in die Bundesrepublik reisen. Es muss aber ein besonderer Anlass und eine Einladung vorliegen. Falls sie nicht wieder in die DDR zurückkehren, so das zynische Kalkül der SED-Oberen, spart sich der ostdeutsche Staat die Rente.
Allein über die FDJ-Reiseorganisation Jugendtourist wird Reisegruppen aus streng ausgewählten, politisch zuverlässigen Kadern gelegentlich die Möglichkeit eröffnet, in den Westen zu fahren. Wer nicht zu diesen privilegierten Gruppen gehört, hat keine Chance, in die Bundesrepublik zu reisen. Die Reisegesuche werden mit den immer gleichen Begründungen abgewiesen.
Ein Beispiel ist der Antrag eines Jugendlichen aus Gersdorf, der 1988 seine in der Bundesrepublik lebende Großmutter zu ihrem 79. Geburtstag besuchen will. Dem jungen Mann wird die Reise mit der Begründung verweigert, dass er seinen Wehrdienst noch nicht absolviert habe. Doch diese Absage ist eine Farce: Sobald er seinen Wehrdienst nämlich abgeleistet hat, ist er „militärischer Geheimnisträger“ und kann erst recht keine Reiseerlaubnis erhalten. Der schriftliche Protest, den der Jugendliche einlegt, bleibt ohne Erfolg.
Angesichts dieser Perspektivlosigkeit ist es nicht verwunderlich, dass sich vor allem junge Menschen entschließen, diesem Land für immer den Rücken zu kehren – auf legalem oder illegalem Weg.
Zitierempfehlung: „Verweigerung der Reiseerlaubnis“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145401