Ich unterschreibe nicht!
Im August 1968 bereitet der Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes dem Prager Frühling ein gewaltsames Ende. In breiten Bevölkerungskreisen erschüttert die „sozialistische Bruderhilfe“, wie es offiziell heißt, den Glauben an einen demokratischen Sozialismus tief. In allen Schichten der Bevölkerung regt sich Protest. Die SED-Führung muss zur Kenntnis nehmen, dass viele nicht bereit sind, den platten Propagandaberichten von einer „Konterrevolution“ im Nachbarland Glauben zu schenken.
Die SED möchte die richtige Gesinnung nun schriftlich haben: Um das gewaltsame Vorgehen der sozialistischen Bruderstaaten vor den DDR-Bürgern zu legitimieren, werden in Betrieben, Schulen, Universitäten und in den Militäreinheiten der NVA sogenannte Zustimmungserklärungen eingefordert. Viele Menschen stehen plötzlich vor einer schwierigen Gewissensentscheidung: Sollen sie ihre Zustimmung zum Einmarsch in der Tschechoslowakei erklären, obwohl sie diesen ablehnen? Sollen sie sich verweigern und damit ihren Arbeits- oder Studienplatz aufs Spiel setzen?
Die SED speist die Bürger mit platten Parolen ab
In staatlich verordneten Veranstaltungen versuchen FDJ- und SED-Funktionäre, das militärische Eingreifen zu rechtfertigen. Sie sprechen von einem notwendigen Schritt zur Bekämpfung der „Konterrevolution“. Es kommt nicht selten zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen. Bei einer Diskussion in einem Berliner Betrieb verlässt die gesamte Belegschaft den Raum, weil der Parteisekretär nicht in der Lage ist, die Fragen zur Zufriedenheit der Arbeiter zu beantworten. Hohle Phrasen wollen sie sich nicht mehr anhören.
Gleichzeitig beginnt in den DDR-Medien eine Kampagne, die dokumentieren soll, dass die Bevölkerung den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in der CSSR gutheißt. Die Zeitungen sind voll von Leserbriefen und Erklärungen, in denen Arbeiter, Künstler, Intellektuelle und Belegschaften ganzer Betriebe ihre uneingeschränkte Zustimmung zur „Zerschlagung der Konterrevolution“ in der CSSR geben.
So verkündet die Schriftstellerin Christa Wolf beispielsweise am 4. September im Parteiblatt „Neues Deutschland“, dass die Widersprüche unseres Jahrhunderts nur vom Sozialismus gelöst werden könnten und dass die CSSR nur in enger Zusammenarbeit mit der Sowjetunion eine Überlebenschance habe.
Große Gesinnungskampagne: Wer nicht zustimmt, fliegt raus
Es lässt sich nicht genau sagen, wie viele Menschen sich den Zustimmungserklärungen verweigern. Die meisten begnügen sich mit Schweigen und unterschreiben, um die eigene Karriere oder den Studienplatz nicht zu gefährden.
Dennoch verweigern Tausende die geforderte Zustimmung mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Diese Verweigerer werden gerügt, aus der Partei ausgeschlossen oder zur „Bewährung in die Produktion“ geschickt. Studenten werden exmatrikuliert und Abiturienten von den Oberschulen verwiesen.
Acht Jahre später, nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976, ist die SED erneut gezwungen, ihr Handeln durch das Ritual einer öffentlichen Kampagne vor der Bevölkerung zur legitimieren.
Zitierempfehlung: „Ich unterschreibe nicht“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung März 2016, www.jugendopposition.de/145445