Befehlsverweigerung in der NVA
In den Einheiten der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR herrscht seit dem Frühsommer 1968 erhöhte Alarmbereitschaft. In den Führungsstäben rechnet man mit einem militärischen Eingreifen in der Tschechoslowakei, um dort die „Konterrevolution“ niederzuschlagen. Die ständigen Truppenübungen des Warschauer Paktes innerhalb der CSSR sowie entlang der Landesgrenzen sollen sowohl die Prager Führung als auch das tschechoslowakische Volk einschüchtern.
Für die einfachen Soldaten bedeutet die erhöhte Gefechtsbereitschaft Urlaubs- und Ausgangssperre, verschärfte disziplinarische Maßnahmen und mehr Wachdienste. Schließlich rücken sie sogar in die Bereitstellungsräume aus. Entlang der Grenze kampieren im Sommer 1968 so viele Truppenteile der NVA wie sonst nur unter Manöverbedingungen. Erhöhte Alarmbereitschaft heißt für die Soldaten, dass sie weitgehend von der Außenwelt isoliert sind.
Erhöhte Alarmbereitschaft bei der NVA
Eigene Kofferradios sind verboten. Auf den Empfangsgeräten in den Kompanieklubs sind die Sender der DDR gekennzeichnet. Das Abhören von NATO-Sendern wird teilweise bestraft. Auch das deutschsprachige Programm der CSSR wird als Feindsender eingestuft. Einmal täglich wird das Neue Deutschland verteilt. Das Verlautbarungsblatt der Partei erweckt den Eindruck, dass in Prag eine „bewaffnete Konterrevolution“ vor der Tür und die NATO schon Gewehr bei Fuß steht, um in der CSSR einzumarschieren.
Die Soldaten fühlen sich isoliert und verunsichert, die Horrornachrichten heizen die Gerüchteküche an. Man munkelt, dass – wie schon einmal während der Kubakrise 1962 – die Wehrpflicht verlängert werden soll. Das soll für jene Soldaten gelten, die turnusmäßig Ende Oktober 1968 entlassen werden müssten. Während der Politschulungen geraten die zuständigen Offiziere in Erklärungsnot, zumal sie kaum besser informiert sind als die Wehrpflichtigen. Viele Soldaten melden sich krank, manche erklären, dass sie die Waffen nicht gegen ihre Klassenbrüder richten wollen. Die Staatssicherheit registriert Fälle von Sabotage.
Wir müssen draußen bleiben: Enttäuschung bei der SED
In der Nacht zum 21. August 1968 bleiben die Einheiten der NVA an der Grenze stehen. Zugleich marschieren Truppen der Sowjetunion, Ungarns, Polens und Bulgariens in die CSSR ein und beenden gewaltsam den Prager Frühling. Diese Entscheidung, auf die NVA-Truppen zu verzichten, fällt kurzfristig und an oberster Stelle in Moskau. Die Führung der SED ist enttäuscht, dass die eigene Armee nicht teilnehmen darf. In ihrer Propaganda erweckt sie jedoch den Eindruck, dass NVA-Einheiten sehr wohl auf dem Territorium der CSSR operieren.
In den Monaten rund um den Prager Frühling wird jeder Widerspruch in der NVA rigoros unterdrückt. Schon bei kleineren „ideologischen Unklarheiten“ kommt es zu Parteistrafen oder Rügen – bis hin zum Ausschluss aus der Armee. Einige Offiziere werden wegen abweichender Meinung unehrenhaft aus dem Dienst entlassen. Etwa 20 Armeeangehörige werden im Zusammenhang mit den Ereignissen in der CSSR strafrechtlich verfolgt. Es sind vor allem untere Dienstgrade: Wehrpflichtige, Unteroffiziere und Offiziersschüler.
Ein 21-jähriger NVA-Angehöriger stellt sich „offen auf die Seite der Konterrevolution“. Er fordert seine Kameraden auf, im Falle eines Einmarsches in die CSSR nicht zu schießen und deshalb die Schlagbolzen aus den Maschinenpistolen zu entfernen. Er erhält eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten.
Zitierempfehlung: „Befehlsverweigerung in der NVA“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung März 2016, www.jugendopposition.de/145368