„Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen: Hauptsache sie bleibt taktvoll“, so der SED-Chef Walter Ulbricht auf dem 6. Parteitag der SED 1963. Dieser Kalauer kennzeichnet einen Umbruch in der Jugendpolitik. Der Twist, Modetanz der Saison, darf jetzt auch in den Jugendklubs der FDJ getanzt werden. Im darauffolgenden Jahr erliegt die ganze Welt dem Beatles-Fieber, und sogar in der DDR erscheinen eine LP und zwei Singles von den Pilzköpfen.
Die Jugendzeitschrift Neues Leben schreibt, die vier Arbeiterjungen aus Liverpool protestieren mit ihrer Musik gegen den Kapitalismus – und damit passen die Beatles in die ideologische Welt der Funktionäre. Die Rolling Stones erspielen sich allerdings keine Sympathien in den Funktionärsetagen und der Erwachsenenwelt. Für Jugendliche ist die rebellisch auftretende Band genau das Richtige, obwohl ihre Platten so unerreichbar sind.
Musikalische Revolution: Von der Arbeiterliedkultur zum Beat
Das Deutschlandtreffen der FDJ bringt eine Wende in der Jugendpolitik: Zu Pfingsten 1964 wird in Berlin nicht nur die Partei bejubelt und gegen den Imperialismus demonstriert – es darf auch getanzt, gelacht und geliebt werden. Den Sound dazu liefert das Jugendradio DT 64. Rund um die Uhr spielt das Sonderstudio Beatmusik. Musik, die damals selbst von manchen westlichen Sendern ungern über den Äther geschickt wird.
Dazu gibt es unzensierte Live-Interviews, flotte Sprüche und gut gemachte Reportagen. In den Redaktionsstuben der Rundfunkanstalten Sender Freies Berlin (SFB) und RIAS in West-Berlin staunt man nicht schlecht über die neue Konkurrenz aus der Ostberliner Nalepastraße, dem Sitz des DDR-Rundfunks. Man denkt über ähnliche Sendungen nach.
In den Jugendklubhäusern der FDJ, die bisher die Arbeiterliedkultur und den Volkstanz pflegten, gründen junge Leute Bands mit Elektrogitarren und Schlagzeug und eifern ihren angelsächsischen Idolen nach. In Leipzig und Umgebung machen The Butlers und andere Gruppen die Tanzschuppen unsicher. In Berlin wird die Reihe „Jazz und Lyrik“ auf die Beine gestellt, und sogar Wolf Biermann darf noch öffentlich auftreten.
Beatverbot: Band heißt jetzt Combo
Doch die neue Freiheit der Jugendlichen ist im Oktober 1965 vorbei. Walter Ulbricht steht in der Kritik der Hardliner im Politbüro. Die suchen einen Vorwand, um die Wirtschaftsreformen zu stoppen, und finden ihn in der Jugendpolitik. Am 11. Oktober 1965 fasst das Politbüro einen Beschluss „Zu einigen Fragen der Jugendarbeit und dem Auftreten der Rowdygruppen“. Schlagartig wird die Beatmusik in den Medien verboten und den Beatgruppen in der DDR die Lizenz entzogen. Für die Jugendlichen ein schmerzhafter Rückschritt. Englische Namen für Bands werden untersagt, fortan müssen sich alle „Combos“ nennen. Die Veranstaltungen in den FDJ-Klubs werden wieder auf ihre ideologische Sattelfestigkeit überprüft.
Leipzig ist das Zentrum der Beatbewegung. Dementsprechend hart greift die Partei in dieser Stadt durch: Die Butlers und vier weitere Gruppen erhalten ein unbefristetes Auftrittsverbot.
Beatdemo in Leipzig
In Leipzig tauchen Flugblätter auf, die zum Protestmarsch gegen das Beatverbot aufrufen. Die Leitungen aller Schulen und Berufsschulen warnen ihre Schüler ausdrücklich davor, sich an diesem Tag in der Gegend des Wilhelm-Leuschner-Platzes sehen zu lassen. Doch erst dadurch wird der Termin allgemein bekannt. Schon damals gibt es das Gerücht, der Auflauf der Beatfans sei von einigen Scharfmachern in der Partei provoziert, um Walter Ulbrichts Reformpolitik zu torpedieren.
Am 31. Oktober 1965 versammeln sich einige Tausend Leute im Zentrum von Leipzig – die meisten von ihnen Schüler und Lehrlinge. Die Volkspolizei geht mit Hunden, Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen die Jugendlichen vor. 279 Personen werden festgenommen, 144 von ihnen strafrechtlich verfolgt. Viele müssen einige Wochen im Braunkohletagebau schuften.
Willkommen in der Vergangenheit: In der Presse beginnt eine Kampagne gegen Langhaarige, Beatfans, Gammler, junge Christen und politisch Andersdenkende. Das 11. Plenum des ZK beendet 1965 jegliche Hoffnung auf eine liberale Kultur- und Jugendpolitik. Walter Ulbricht greift eine Zeile der Beatles auf und fragt: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“ Nun gibt die Partei also wieder den Takt an.
Zitierempfehlung: „Langhaarige, Beatfans und Gammler“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145367
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Oktoberklubmitglied Wolfgang Gregor: „Wir stehen also voll hier, aber wir wollen auch zeigen, was eventuell nicht gut ist. Wir wollen kritisch sein, und wir wollen verändern, ja? Mitarbeiten …“
Oktoberklubmitglied Jörn Fechner: „… produktiv …“
Oktoberklubmitglied Wolfgang Gregor: “… produktiv, produktiv nach vorne raus.“
Lied „Sag mir, wo du stehst!“:
Sag mir, wo du stehst! Sag mir, wo du stehst! Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst! Zurück oder vorwärts, du musst dich entschließen! Wir bringen die Zeit nach vorn Stück um Stück. Du kannst nicht bei uns und bei ihnen genießen, denn wenn du im Kreis gehst, dann bleibst du zurück! Sag mir, wo du stehst …
Oktoberklubmitglied Hartmut König: „Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist beispielsweise, das gute politische Lied zu schaffen und zu singen. Bleibt die Frage: Was ist denn nun ein gutes politisches Lied. Also, abgesehen davon, dass es ganz, ganz verschiedene Formen annehmen kann, wie beispielsweise Ballade usw. – uninteressant. Wichtig ist aber, glaube ich, dass sich der Autor und auch der Sänger mit den Problemen seinesgleichen, seines Publikums genauestens beschäftigt hat. Mensch, im Grunde hat er sie selber, nicht? Ich meine, ich bin doch einer von denen, die dort sitzen, ich habe die gleichen Probleme oder zum großen Teil gleiche Probleme. Ich habe mich mit denen vorher unterhalten. Ich weiß, was sie anspricht. Ich weiß, was Argumente sind, die bei ihnen ankommen, ja? Was überzeugt bei ihnen. Und ich glaube, das muss in unseren Liedern sein. Was nützt es, wenn man in Jugendliedern wie in der Schlagerproduktion mal Phrase an Phrase reiht oder dreimal geschluckte Wahrheiten aneinanderreiht, nicht? Das hat absolut gar keinen Sinn. Ich meine, man muss das schon so sagen, dass die jungen Leute das erstens interessiert und dass es zweitens für sie glaubhaft ist, ja? Dass man in ihrer Sprache spricht und nicht schlechter.“
Quelle: Lieder machen Leute, 1968, PROGRESS Film-Verleih GmbH, Berlin