Kontext
Internationales Geschehen
In den 1960er Jahren begehren junge Menschen überall auf der Welt gegen überkommene Moralvorstellungen und ideologische Dogmen auf. Was die vielen widerstreitenden Richtungen eint, ist die Unzufriedenheit mit den politischen und gesellschaftlichen Zuständen sowie ein Glaube an die Veränderbarkeit der Welt. Das neue Lebensgefühl drückt sich in der Musik, der Mode und der Politik aus. Begleitet von klaren Aussagen gegen den Vietnamkrieg, ist das Woodstock-Musikfestival im August 1969 ein Höhepunkt der amerikanischen Hippiebewegung.
Von den USA ausgehend, entwickeln linke und Bürgerrechtsgruppen neue Formen des Protests. Durch ihre Technik der intelligenten Provokation verhelfen sie Minderheiten zu einer großen medialen Präsenz. Selbst die Olympiade in Mexico-City im September 1968 wird zum Podium: Schwarze US-Sportler versagen ihrer Nationalflagge demonstrativ die Ehrung und erheben die geballte Faust zum Black-Panther-Gruß. In den Jahren 1967 und 1968 gipfelt die Protestbewegung in vielen Ländern in einer Studentenrevolte. Bilder der Barrikadenkämpfe im Pariser Quartier Latin im Mai 1968 prägen die Jugend- und Studentenproteste in Westeuropa ebenso wie die Ermordung des schwarzen amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King am 4. April 1968.
In Griechenland, seit 1952 Mitglied des westlichen Verteidigungs-Bündnisses NATO, ergreifen im April 1967 Militärs die Macht. In der Jugendpolitik führt die neue Regierung einen heftigen Kampf gegen westliche Beatmusik und lange Haare. Die Militärdiktatur endet 1974. Wegen der strategischen Bedeutung Griechenlands setzen sich die Bundesrepublik Deutschland und andere westliche Staaten für den Verbleib Griechenlands in der NATO ein.
In Nigeria tobt unterdessen ein blutiger Sezessionskrieg, nachdem sich im Mai 1967 die Provinz Biafra für unabhängig erklärt hat. Der Krieg wird bis 1970 über 2,5 Millionen Opfer kosten. Großbritannien, die USA und die Sowjetunion beliefern die Zentralregierung mit Waffen. Biafra hingegen erhält von China und Frankreich Waffen.
In Warschau demonstrieren Studenten im März 1968 für mehr Freiheit. Die Hardliner der kommunistischen Führung nehmen dies zum Anlass für eine antisemitische Kampagne, die viele Polen jüdischer Herkunft zur Auswanderung nach Israel zwingt. In der Tschechoslowakei beginnt ein Reformprozess, der als Prager Frühling in die Geschichte eingeht. Die sozialistischen Staaten versuchen, die Führung in Prag unter Druck zu setzen. Doch die Aufbruchsbewegung hat längst zu viel Eigendynamik bekommen. Am 21. August 1968 besetzen Truppen des Warschauer Paktes die CSSR. Vorwand ist ein Hilferuf der sowjettreuen Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Das Volk steht gewaltlos und einmütig gegen die Besatzer. Truppen der DDR sind am Einmarsch – bis auf einige Verbindungsoffiziere – nicht beteiligt, stehen aber in Bereitschaftsstellung.
Bundesrepublik Deutschland
Während der Anti-Schah-Demonstration in West-Berlin im Juni 1967 erschießt ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg. Das ist der Moment, an dem die bis dahin meist friedlichen Proteste in der Bundesrepublik umschlagen. Studenten ziehen mit roten Fahnen und Bildern kommunistischer Parteiführer durch die Straßen West-Berlins. Anlässlich eines Vietnam-Kongresses in West-Berlin kommt es am 18. Februar 1968 zu einer großen Anti-Vietnamkrieg-Demonstration, der am 21. Februar eine Gegendemonstration der Berliner Bevölkerung mit ca. 80.000 Teilnehmern folgt. Viele Gegner des Vietnamkriegs sehen trotz der Millionen Opfer der chinesischen Kulturrevolution in Mao Tse-tung ihr Ideal. Auch der 1967 in Bolivien nach seiner Gefangennahme ermordete Guerillaführer Ernesto Che Guevara wird von der rebellischen Jugend kritiklos verehrt.
Die sich als Außerparlamentarische Opposition (APO) etablierende Bewegung führt unter dem Schlagwort „Enteignet Springer!“ eine Kampagne gegen die Meinungsmanipulation, die von der Bildzeitung ausgeht. Nach einem Mordanschlag auf Rudi Dutschke am Gründonnerstag kommt es Ostern 1968 in verschiedenen westdeutschen Städten zu Straßenschlachten. Am Ende der antiautoritären Bewegung stehen oftmals Politsekten mit extrem autoritären Strukturen.
Seit 1969 kann in der Bundesrepublik die 1956 verbotene Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) unter dem neuen Namen DKP wieder auftreten.
Die 1966 in der Bundesrepublik gebildete Große Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP verabschiedet 1968 gegen langjährigen Widerstand die sogenannten Notstandsgesetze. Sie regeln unter anderem den Einsatz der Bundeswehr bei inneren Unruhen.
Ein Jahr später bilden SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt die erste sozialliberale Koalition mit dem Versprechen, mehr Demokratie zu wagen. Sie wird bis 1982 Bestand haben.
Deutsche Demokratische Republik
Unter Walter Ulbricht versucht die Partei- und Staatsführung seit 1962/63, ihr Wirtschaftssystem effizienter zu gestalten. Sie entwirft ein Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung (NÖSPL). Die Planziffern sollen nicht mehr zentral vorgegeben, sondern in den Betrieben selbst entwickelt werden. Die volkseigenen Unternehmen sollen in einen Wettbewerb treten. Dies setzt realistische Preise und Marktmechanismen voraus. Außerdem sollen Wissenschaft und Forschung gefördert werden. In Ost-Berlin und den Zentren der Bezirkshauptstädte sollen moderne Repräsentationsbauten von der Leistungskraft des Sozialismus künden. Diese Reformprojekte sind ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft, gefährden jedoch langfristig die uneingeschränkte Macht der Partei. Deswegen wird die Wirtschaftsreform schon 1965 zurückgefahren.
Dies hat auch Auswirkungen auf die Kultur- und Jugendpolitik der Partei. Die Lockerungen der frühen 1960er Jahre schlagen nun in eine sehr restriktive (= einschränkende) Politik um. Der Kampf gegen unangepasste Jugendliche wird rabiater: In Ost-Berlin nimmt die Volkspolizei Mitte der 1960er Jahre langhaarige Jugendliche fest und schneidet ihnen die Haare ab. Im thüringischen Ort Pößneck wird diese erniedrigende Aktion im Oktober 1969 wiederholt. Wer dagegen protestiert, wird wegen „Staatsverleumdung“ eingesperrt.
Einige Projekte der Reformperiode werden weitergeführt. Dazu gehört die Sozialistische Hochschulreform, die Akademiereform und eine neue Verfassung, der am 6. April 1968 angeblich 94,5 Prozent der Bürger in einem Volksentscheid zustimmen. Dessen Qualität unterscheidet sich kaum von den üblichen Praktiken bei Wahlen in der DDR. In Artikel 1 wird die „führende Rolle“ der SED festgeschrieben. Die Grundrechte der Bürger werden durch Grundpflichten – und ein zur selben Zeit verabschiedetes neues sozialistisches Strafrecht – systematisch begrenzt. An den politischen Realitäten ändert die Verfassung nichts. Vielmehr gibt es nach der Niederschlagung des Prager Frühlings eine Welle der Repression (= Unterdrückung, Zurückdrängung) in der DDR.
Erst nach Walter Ulbrichts Absetzung und dem Machtantritt Erich Honeckers am 3. Mai 1971 beginnt eine Phase der kulturpolitischen Auflockerung, die bis 1976 anhält. Zugleich wird aber unter Erich Honecker der strafrechtliche Kampf gegen Jugendkriminalität und sogenannte Asozialität verschärft. Ende 1974 befinden sich über 12.000 DDR-Bürger in Arbeitslagern. Insgesamt sind es zu diesem Zeitpunkt mehr als 48.000 Häftlinge. Die wirtschaftspolitischen Reformideen der Ulbricht-Ära werden endgültig zu den Akten gelegt.
Zitierempfehlung: „Kontext zum Portal Hände weg von Prag!“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung November 2016, www.jugendopposition.de/145363