Reisen in die CSSR
Prag wird im Frühjahr und Sommer 1968 zu einem beliebten Reiseziel für Jugendliche aus der DDR. Und es sind nicht allein die touristischen Sehenswürdigkeiten und Einkaufsmöglichkeiten, die die Goldene Stadt in dieser Zeit so anziehend machen. Viele Menschen sehnen sich nach jenem Hauch von Freiheit, den sie zu Hause so sehr vermissen.
In Prag kann man in dieser Zeit die begehrten Schallplatten der Beatles und Rolling Stones kaufen. In den Kinos laufen die neuesten US-Filme in Originalfassung. An den Kiosken gibt es westliche Zeitungen und Zeitschriften, und überhaupt ist das Warenangebot dort bunter als in der DDR. Hier sind die Kellner freundlicher, die Kaffeehäuser und Biergärten gemütlicher, und für wenige Kronen bekommt man Softeis in verschiedenen Geschmacksrichtungen.
DDR-Jugendliche schnuppern frischen Wind in der CSSR
In Prag kann man ohne Formalitäten ein Zimmer mieten oder in einem Studentenwohnheim unterkommen, was in der DDR undenkbar ist. Da sich Jugendliche aus der DDR oft kein Hotel leisten können, sind sie auf persönliche Kontakte zu Gastgebern angewiesen. Sie fragen in Studentenkneipen nach Unterbringungsmöglichkeiten und schlafen zur Not im Wartesaal auf dem Bahnhof. So kommen sie viel enger mit der Lebenswirklichkeit des Gastlandes in Berührung als normale Touristen.
Wenn der Zug auf der Rückfahrt in Bad Schandau oder Zinnwald hält, spüren die DDR-Reisenden, dass sie wieder zu Hause sind: Mit unermüdlichem Eifer filzen die Zöllner die Heimkehrer aus der CSSR. Sie beschlagnahmen Schallplatten, deutschsprachige Medien und Bilder jeglicher Art. Sie kassieren nicht nur westliche Publikationen und antiquarische Bücher ein, sondern auch die deutschsprachigen Informationen der tschechoslowakischen Nachrichtenagentur CTK. Die Prager Volkszeitung, die ebenfalls auf Deutsch erscheint, steht ganz oben auf der DDR-Liste staatsfeindlicher Lektüren.
1968 registrieren die DDR-Sicherheitsorgane neben österreichischen und westdeutschen Publikationen die „verstärkte Einfuhr“ von tschechoslowakischen Zeitungen und Zeitschriften. Wer sich untersteht, die Zöllner darauf hinzuweisen, dass es sich um offizielle Verlautbarungen der kommunistischen Bruderpartei handelt, kann sich auf noch längere Kontrollen einstellen. In einem Zollbericht heißt es: „Während der überwiegende Teil der Bürger die formlose Einziehung deutschsprachiger Literatur anerkennt, führen in Einzelfällen andere DDR-Bürger längere Diskussionen dazu.“ Zwei Studenten der Universität Rostock wehren sich, als im Grenzzollamt Zinnwald ihre Druckschriften willkürlich beschlagnahmt werden.
Die DDR-Zollbehörden verzeichnen aufmüpfige Tendenzen
Über einen der beiden Studenten, der sich als Mitglied der SED offenbart, heißt es: „Er bekennt sich zu dem revolutionären Verhalten der Studenten in der CSSR. Durch das Verhalten der Prager Studenten sei der gesamte Prozess der Demokratisierung ins Rollen gekommen.“ Der zusammenfassende Bericht über den Vorfall wird an die Stasi und parallel an das Politbüromitglied Albert Norden weitergegeben. Der Apparat ist alarmiert.
Einige Tage später verfasst der Leiter der Zollverwaltung der DDR einen ausführlichen Bericht an die Abteilung Sicherheit im Zentralkomitee der SED. Fünf Tendenzen bereiten den Organen der DDR Bauchschmerzen:
1. die zunehmende Zahl von Treffen zwischen DDR-Bürgern und Westdeutschen beziehungsweise Westberlinern
2. die steigende Zahl von Versuchen, über die Tschechoslowakei in den Westen zu fliehen
3. die Ausstellung von Internationalen Studentenausweisen durch den Internationalen Studentenbund, der seinen Sitz in Prag hat
4. die Teilnahme an Beatkonzerten
5. die Einfuhr von Büchern, Zeitungen und Magazinen.
Ein Jugendlicher erklärt angesichts der Beschlagnahme seiner Zeitschriften: „Was kann man in der DDR überhaupt für Zeitungen lesen? Bei uns ist wohl nur das Neue Deutschland` erwünscht? Das ND` nehmen wir zum Arschabwischen.“ Er wird der Polizei übergeben. Ein anderer Bürger, dessen in der CSSR erworbene Lederjacke beschlagnahmt wird, äußert, so der Bericht, „in lautem Tonfall“: „Wo gibt es denn so etwas, mir mein Eigentum wegzunehmen? Das gibt es nur in diesem Scheißstaat. Ihr braucht wohl die Jacken für die Staatssicherheit?“
Ein solcher Tonfall der Staatsmacht gegenüber ist in der DDR unüblich. Offenbar beflügelt der frische Wind in der CSSR auch die Menschen in der DDR. Der Einmarsch der Panzerarmee des Warschauer Paktes am 21. August 1968 ist ein deutliches Zeichen für die Bevölkerung aller Ostblockstaaten, nicht allein gegen die der CSSR. Moskau signalisiert damit unmissverständlich, dass es nicht im Traum daran denkt, das „Freundschaftsband“ zu lockern.
Zitierempfehlung: „Reisen in die CSSR“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145440