Am 11. September 1989 öffnet die Volksrepublik Ungarn ihre Grenzen nach Westen. Innerhalb von nur drei Tagen fliehen 15.000 vor allem junge Ostdeutsche über Ungarn nach Österreich und von dort in die Bundesrepublik. Die Massenflucht junger Menschen, die in diesen Tagen ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, wird von der DDR-Führung nur noch hilflos ignoriert – oder kriminalisiert.
Anders reagiert die Oppositionsbewegung: Viele Aktivisten sehen in dem Ausbluten des Landes eine große Gefahr. Ihnen ist klar, wie sehr jetzt die Zeit drängt, durch umfassende Reformen Veränderungen herbeizuführen, die die Leute zum Hierbleiben veranlassen und ihnen eine Perspektive in der Heimat bieteten.
In verschiedenen Oppositionsgruppen wird heftig über die Gründung eigener Parteien diskutiert. Viele Gruppen melden sich, da eine legale Parteigründung zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich ist, vorerst mit programmatischen Erklärungen zu Wort. Nachdem im März 1989 die Initiative Frieden und Menschenrechte einen Aufruf zu ihrer republikweiten Ausbreitung veröffentlicht hat, folgen diesem Beispiel ab August 1989 zahlreiche andere Gruppen. Initiativgruppen werden ins Leben gerufen, die Partei- oder Vereinsgründungen vorbereiten.
Ostdeutsche fliehen in Massen über Ungarn nach Österreich
Am 9. und 10. September 1989 findet in Grünheide bei Berlin das Gründungstreffen des Neuen Forums statt. Am 19. September 1989 stellen die Gründungsmitglieder beim Ministerium des Innern und in elf (von 15) Bezirksbehörden der DDR Anträge auf Zulassung des Neuen Forums. Zu diesem Zeitpunkt haben bereits 1.500 Menschen den Gründungsaufruf unterschrieben. (Über seine Erlebnisse und die Inhalte des Aufrufs '89 berichtet Reinhard Schult im Zeitzeugen-Interview.)
Doch in alter Manier gibt die DDR-Nachrichtenagentur ADN am 21. September 1989 bekannt, dass das Neue Forum nicht zugelassen wird. Die Begründung: „Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der DDR und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar.“
Erst am 8. November 1989 wird der Antrag auf Zulassung offiziell entgegengenommen. Zu diesem Zeitpunkt ist das Neue Forum bereits zur wichtigsten und größten Bürgerbewegung im Herbst 1989 herangewachsen. Zu den Gründungsmitgliedern gehören seit Langem engagierte Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley, Katja Havemann, Reinhard Schult sowie Sebastian und Christine Pflugbeil. Unter den Gründern befinden sich nur wenige junge Leute.
Neues Forum & Co.: Die „Staatsfeinde“ formieren sich
Aber auch die jungen Leute formieren sich: zum Beispiel der 25-jährige Michael Arnold, der in der Leipziger Initiativgruppe Leben und in der Arbeitsgruppe Umgestaltung Leipzig aktiv ist. Diese ungleichmäßige Verteilung von Jung und Alt ist typisch für die meisten Bürgerrechtsgruppen dieser Zeit. Sie gilt auch für die Runden Tische, die später ins Leben gerufen werden. Während sich an den Straßenaktionen vor allem junge Menschen beteiligen, übernehmen die älteren in den Gremien das Ruder.
In ihren Aufrufen betonen alle Gruppen die Notwendigkeit einer Staatsreform, nicht zuletzt um die Massenflucht endlich zu stoppen. Am 4. Oktober 1989 formulieren Vertreter der wichtigsten Oppositionsgruppen ihre Hauptforderungen in einer gemeinsamen Erklärung: Demokratisierung, freie und geheime Wahlen unter UN-Mandat und die Freilassung der inhaftierten Oppositionellen.
Das SED-Regime registriert das Anwachsen und die Vernetzung der Oppositionsbewegung mit Entsetzen. Die Organisiertheit des Widerstands und die Masse an Menschen, die sich daran beteiligt, bereiten dem Ministerium für Staatssicherheit Kopfzerbrechen. Dem mächtigsten Kontrollapparat der DDR entgleitet die Kontrolle über die täglich wachsende Zahl der „Feinde des Sozialismus“ in rasendem Tempo.
Die letzten Versuche der Stasi, „unter Führung der Partei alle erforderlichen Maßnahmen zur Unterbindung der Formierung feindlicher, oppositioneller Kräfte in DDR-weiten Sammlungsbewegungen“ durchzusetzen, scheitern auf ganzer Linie. Die Revolution überrollt die Klassenkämpfer, die sich selbst als „Schild und Schwert der Partei“ bezeichnen.
Zitierempfehlung: „Formierung der Bürgerbewegung“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145319
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Der berühmte erste Satz ist, glaube ich: ´Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist gestört`. Das beinhaltet, dass man in diesen kritischen Situationen (Fluchtbewegung, Botschaftsbesetzung), das Gefühl hatte, die politischen Verhältnisse sind völlig erstarrt. Da hat sich überhaupt nichts mehr bewegt. Das beinhaltet, dass man den Dialog eingefordert hat, sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch mit den Leuten, die regieren. Dass man eine andere Gesellschaft haben will, dass Flucht nicht die Alternative ist. Dass man hier bleiben muss, um dieses Land zu verändern, weil wir so eine Ellenbogengesellschaft wie im Westen nicht haben wollten. Es beinhaltet, dass man darüber nachdenken muss, in welcher Gesellschaft man leben will. Das waren die Grundaussagen. Da waren im Prinzip alle aufgefordert nachzudenken, sich einzusetzen, sich einen Kopf zu machen. Und es nicht mehr zuzulassen, es einer völlig verkalkten Bürokratie zu überlassen.
Frage: Welche Bedeutung hatte das ´Neue Forum` Ihrer Meinung nach für den Herbst '89?
Ich denke schon, dass das der Orientierungspunkt auf den Demonstrationen war. Die Rufe ´Neues Forum zulassen` waren ja auf so ziemlich allen Demonstrationen zu hören. Die Leute, die das Neue Forum in der Provinz gemacht haben, waren oftmals die einzige Bürgerbewegung, die einzige oppositionelle Organisation, die DDR-weit existierte, gerade in den kleinen Städten. Die haben auch zum Großteil die Demonstrationen mit organisiert. Ob das jetzt die Abrüstungssachen waren oder die Aufdeckung von irgendwelchen geheimen Waffenlagern: Meist war das Neue Forum daran beteiligt.
Reinhard Schult, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de