Strausberger Schüler
Strausberg ist eine hübsch gelegene Kleinstadt am östlichen Rand von Berlin. Ab 1956 sitzen dort das Ministerium für Nationale Verteidigung, der Generalstab und andere Dienststellen der Nationalen Volksarmee (NVA). In neu errichteten Wohnblocks leben Offiziere und ihre Familien. Nicht gerade ein aufregendes Pflaster für den 17-jährigen Rock-'n'-Roll-Fan Michael Gartenschläger und seine Kumpel.
Die Clique gründet 1960 in Strausberg einen Fanklub für den Rock-'n'-Roll-Star Ted Herold und setzt eine Anzeige in die Jugendzeitschrift Bravo, die nur in der Bundesrepublik erscheint. Die Rock-'n'-Roll-Fans bekommen viel Post von Jugendlichen aus dem Westen, und so wird auch die Volkspolizei auf sie aufmerksam. Bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt sie die wertvollen Schallplatten. Kein Wunder, dass die Jugendlichen äußerst sauer sind.
Die Schüler fahren regelmäßig nach West-Berlin. Dort gibt es die Schallplatten und Poster ihrer Rockidole. Dort können sie auf Konzerte gehen oder in spannende Kinovorstellungen, kurz: Dort tobt das Großstadtleben. Zum letzten Mal sind sie dort am 12. August 1961. In der folgenden Nacht sperren Grenzpolizei und Kampfgruppen die Sektorengrenze ab – der Bau der Mauer beginnt. Schon am Stadtrand von Ost-Berlin finden strenge Kontrollen statt.
Viele erwachsene DDR-Bürger sind verärgert, schimpfen über die Sperrmaßnahmen und bleiben dennoch untätig. Michael Gartenschläger und seine Freunde hingegen besorgen sich weiße Farbe und verzieren das überdimensionale Wandgemälde „Die Verbundenheit der Bevölkerung mit den bewaffneten Organen“. Das befindet sich in der Armeesiedlung in Strausberg. Am nächsten Abend malen sie Parolen an Scheunenwände und Garagen. Später sitzen sie in einer ihrer Lieblingskneipen, der Müncheberger Klause, und erzählen von ihren Heldentaten.
Lebenslänglich mit 17: Die SED schlägt mit voller Härte zu
In der nächsten Nacht radeln einige der Jugendlichen mit ihren Fahrrädern nach Wilkendorf und zünden eine Feldscheune der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft „Einheit“ an. Die Feuerwehr löscht den Brand, doch diese Aktion soll das Fanal zum Aufstand in Strausberg werden. Am 19. August 1961 werden Michael Gartenschläger und vier seiner Freunde verhaftet und in ein Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gebracht.
Die SED und das MfS beschließen, diese Brandstiftung in einem Schauprozess zu behandeln und die Angeklagten mit exemplarischer Härte zu verurteilen. Der Prozess findet im Strausberger Kulturhaus der NVA als Schauprozess vor „erweiterter Öffentlichkeit“ statt. Die DDR-Presse berichtet ausführlich darüber, und selbst die empörten Reaktionen aus dem Westen scheinen der SED ins Kalkül zu passen: In der ersten Zeit nach dem Mauerbau setzt die SED ganz auf Einschüchterung und Abschreckung.
Michael Gartenschläger und sein Freund Gerd Resag (beide 17-jährig) werden am 15. September 1961 zu lebenslangen Zuchthausstrafen verurteilt. Karl-Heinz Lehmann (17) bekommt fünfzehn, Gerd-Peter Riediger (18) zwölf Jahre. Der 18-jährige Jürgen Höpfner wird zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, obwohl er sich an den Aktionen der Gruppe nicht beteiligt hatte. Diese hohen Strafurteile gegen die Strausberger Schüler werden wie Tausende anderer Fälle in der Bundesrepublik von der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter registriert.
Nach zehn Jahren Haft und zwei Ausbruchsversuchen wird Michael Gartenschläger 1971 von der Bundesrepublik freigekauft. Doch die Verhältnisse in der DDR und die innerdeutsche Grenze lassen ihn nicht los: In zwei spektakulären Aktionen montiert Gartenschläger an der DDR-Grenze angebrachte Selbstschussanlagen ab, um sie der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Ein dritter Versuch in der Nacht zum 1. Mai 1976 scheitert, weil das MfS präventiv eine Spezialeinheit an der Grenze stationiert hatte. Michael Gartenschläger stirbt im Kugelhagel des Todeskommandos. Seine sterblichen Überreste verschwinden zunächst spurlos.Die letzte Ruhestätte Gartenschlägers auf dem Schweriner Waldfriedhof wird von DDR-Regierung geheim gehalten. Erst nach der Friedlichen Revolution findet man sein Grab.
Zitierempfehlung: „Straußberger Schüler“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145358