Sturm auf die Kreisleitung - Der 17. Juni 1953 in Jena
Am Morgen des 17. Juni 1953 ziehen in Jena mehrere Demonstrationszüge aus den Großbetrieben in Richtung Stadtzentrum. Gegen neun Uhr haben sich etwa 20.000 Demonstranten auf dem Holzmarkt gegenüber der SED-Kreisleitung eingefunden. Einer von ihnen ist der 26-jährige Autoschlosser Alfred Diener.
Aus der Menschenmenge heraus wird spontan eine Delegation zusammengestellt, die mit den SED-Funktionären verhandeln soll. Gegen zehn Uhr begibt sich eine dreiköpfige Abordnung in das Gebäude der SED-Kreisleitung. Ihr gehören Walter Scheler, Herbert Bähnisch und Alfred Diener an (Bildergalerie). Sie sagen dem Ersten Sekretär Gerhard Merx, was die Arbeiter wollen: freie Wahlen und die Einheit Deutschlands. Sie fordern den SED-Sekretär auf, ans Fenster zu treten, um vor den Massen persönlich Rechenschaft abzulegen.
Als sich Gerhard Merx als unwillig erweist, geht Alfred Diener ans Fenster. Später wird es heißen, er forderte die Demonstranten auf, ins Gebäude zu kommen. Die SED-Kreisleitung wird von den Demonstranten gestürmt. Es kommt zu Verwüstungen und zu Gewalt gegen SED-Funktionäre. Alfred Diener ist an diesen Vorfällen unbeteiligt.
Jena stürmt die SED-Hochburg
Mittags rücken sowjetische Militärfahrzeuge und Panzer in die Stadt ein. Zuerst wird das Gebäude der SED-Kreisleitung geräumt. Die sowjetischen Soldaten nehmen acht Personen fest, darunter auch die drei Mitglieder der Verhandlungsdelegation. Sie werden in die Kaserne Löbstedt gebracht, unter Misshandlungen verhört und am nächsten Morgen ins Gerichtsgefängnis von Weimar transportiert, wo seit Juli 1945 der sowjetische Geheimdienst NKWD residiert. Walter Scheler erinnert sich, dass es den Gefangenen fast unmöglich war, während der Fahrt miteinander zu sprechen. „Ich weiß nur noch, dass Alfred sagte: Haltet dicht, ich nehme alles auf mich.` Die Konsequenzen konnten wir alle nicht erahnen.“
Währenddessen postiert sich das sowjetische Militär im Stadtzentrum. Doch wegen einer Sitzblockade können die Panzer nicht weiterfahren. Auch Straßenbahnen blockieren ihren Weg. Die Soldaten feuern Warnschüsse ab, und es kommt zu weiteren Verhaftungen.
Die sowjetischen Militärbehörden haben den Befehl bekommen, Rädelsführer standrechtlich zu erschießen und diese Exekutionen öffentlich bekannt zu geben (Bildergalerie). Aus der Menge der Verhafteten werden relativ willkürlich Einzelne herausgegriffen, im Schnellverfahren vor einem Militärtribunal zum Tode verurteilt und sofort erschossen. Diese Maßnahme soll Angst unter der Bevölkerung verbreiten.
Alfred Diener: Am Tag vor seiner Hochzeit erschossen
Alfred Diener wird am Morgen des 18. Juni – keine 24 Stunden nach seiner Verhaftung – im Gebäude der sowjetischen Kommandantur hingerichtet. Seine Angehörigen und Freunde erfahren noch am selben Tag von der Erschießung: Überall in der Stadt hängen entsprechende Plakate, und Lautsprecherwagen verkünden das Urteil. Am 19. und 20. Juni wird die knappe Mitteilung des sowjetischen Stadtkommandanten auch in den Lokalzeitungen abgedruckt.
Alfred Diener und seine Verlobte wollten am 19. Juni heiraten, das Aufgebot war bereits bestellt. Der knapp einjährige Sohn verliert seinen Vater.
Seit 1993 gibt es in Jena eine Alfred-Diener-Straße. 1995 erklärt der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation das Urteil für null und nichtig, Alfred Diener wird rehabilitiert. Am 18. Juni 1996 enthüllt der Weimarer Oberbürgermeister eine Gedenktafel in Erinnerung an den Erschossenen an der Fassade des Hinrichtungsortes, der heutigen Polizeiinspektion.
Zitierempfehlung: „Jena“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145351