Neben dem Offenen Brief der Künstler gegen die willkürliche Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 ist die Unterschriften-Aktion der Jenaer Jungen Gemeinde Stadtmitte die wichtigste Widerstandsaktion. Die Ereignisse in Jena – die Unterschriftensammlung und vor allem die darauf folgende Verhaftungswelle – werden in den oppositionellen Kreisen der ganzen DDR bekannt und führen zu einem erneuten Aufflammen des Widerstands gegen das Regime.
In die meisten Gruppierungen, die der Politik der SED kritisch gegenüberstehen, hat die Geheimpolizei Informanten eingeschleust, so auch in die Junge Gemeinde Stadtmitte. In diesem Fall ist es ein Student, der unter dem Decknamen "Helmut Falke" regelmäßig über die Zusammenkünfte der Jungen Gemeinde beziehungsweise des Lesekreises seine Berichte an die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit liefert. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns schlägt seine große Stunde: Am Abend des 17. November 1976 beschließt die Versammlung, keine Einzelaktionen zu starten, sondern sich Rat bei Robert Havemann und Jürgen Fuchs in Berlin zu holen. Diese Entscheidung meldet "Helmut Falke" direkt an die Stasi. Staatssicherheitsminister Mielke wird sofort telegrafisch über den Stand der Dinge in Jena informiert (Bildergalerie).
Am kommenden Abend, nach der Lesung von Jurek Becker, treffen sich etwa 50 junge Leute in den Räumen der Jungen Gemeinde, unter ihnen auch "Helmut Falke". An diesem Abend wird der Offene Brief der Künstler verlesen. Die Gruppe beschließt, eine Unterschriftensammlung zu starten. Der Spitzel nimmt, unter dem Vorwand, sich das Papier in Ruhe durchlesen zu wollen, eine Abschrift des Offenen Briefs mit nach Hause und bringt ihn zur Kreisdienststelle der Stasi. Die reagiert schnell: Um drei Uhr nachts trifft ein Operativer Einsatzstab aus der Bezirksverwaltung Gera ein, morgens um fünf Uhr sind die Einsatzpläne fertig, um sechs beginnen in Jena die Verhaftungen. Insgesamt werden 40 Personen zu Verhören abgeholt, unter ihnen auch Thomas Auerbach und seine damals 22-jährige Freundin Doris Liebermann. (Doris Liebermann berichtet im Zeitzeugen-Interview darüber.) Thomas Auerbach und einige seiner Freunde bleiben in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: staatsfeindliche Gruppenbildung.
Der 23-jährige Marian versteckt Beweismaterial im Staubsauger
Im Gefängnis versucht die Stasi, die Jenenser durch Isolationshaft und Psychoterror zu Geständnissen zu bewegen. Viele der Verhafteten sind gerade erst Anfang 20. Ihre Wohnungen werden unterdessen nach belastenden Materialien durchwühlt. Doch es gelingt der Stasi (noch) nicht, die Unterschriftenliste vom 19. November zu finden. Marian Kirstein (23) hat sie nämlich im Staubsaugerbeutel versteckt.
Im Westen reagieren Gruppen wie das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ sofort auf die Verhaftungswelle. In einer Protestresolution erklären prominente Unterstützer des Schutzkomitees ihre Solidarität, unter ihnen Otto Schily, Max Frisch und Romy Schneider.
Ein offizieller Prozess wird gegen die Mitglieder der Jungen Gemeinde nie geführt. Im September 1977 werden sieben der acht Inhaftierten nach West-Berlin abgeschoben – bei einer Weigerung drohen zwölf Jahre Haft. Dass die Jenaer Szene damit nicht unter Kontrolle gebracht ist, zeigt die Entwicklung der Friedensgemeinschaft Jena in den folgenden Jahren.
Zitierempfehlung: „Die Aktion der Jungen Gemeinde Stadtmitte“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145383
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Biermann war natürlich ein Sprachrohr für viele Jugendliche. Für uns alle hat Biermann Sachen ausgedrückt, die wir selbst nicht in der Lage waren zu formulieren. Wir haben das so ähnlich gefühlt, und er hat die Worte dafür gefunden. Ich war im Theologen-Konvikt. Das war ein Heim, in dem die jungen Theologen wohnten. Wir saßen beim Abendbrot, und ich weiß, dass einer sagte: ´Habt ihr schon gehört, dass der Biermann ausgebürgert ist?`. Da war für mich klar, dass jetzt alles zu Ende ist, dass die jetzt mit eisernen Besen aufräumen werden.
Was bestimmt wichtig war, ist der Umstand, dass Jurek Becker am 17. November in Jena im ´Club der Intelligenz` gelesen hat. Viele junge Leute hatten sich da eingefunden, es war rappelvoll, man kriegte überhaupt keinen Platz. Jurek Becker hat ganz klare Worte gesagt, hat entschieden die Biermann-Ausbürgerung abgelehnt und dagegen protestiert. Er erzählte von diesem Brief der Schriftsteller an die DDR-Regierung, und dadurch kam überhaupt die Idee auf, sich diesem Brief anzuschließen. Und am nächsten Tag, am 18. November, fand in den Räumen der Jungen Gemeinde ein Treffen statt, wo 58 junge Leute diesen Bittbrief, diesen devot gehaltenen Brief an die DDR-Regierung unterschrieben haben. Ich habe das jetzt nochmal nachgelesen.
Das hätte auch niemand erfahren, wenn es nicht einen wichtigen Spitzel in der Jungen Gemeinde gegeben hätte: "Helmut Falke" mit Decknamen. Der ist noch in der Nacht, nach ein Uhr, zur Staatssicherheit gerannt. Er hat noch in der Nacht irgendwelche operativen Stäbe aus Gera, der Bezirksstadt, angefordert. Schon früh um sechs fingen die Verhaftungen an. Jürgen Fuchs hat diesen Text nach Jena durchgegeben. Weil ich eine Berufsausbildung mit Abitur gemacht hatte und Stenographie konnte, hatte er mir den Text gesagt. Ich hatte es mit stenographiert und diesen Text getippt und war so dumm, alle Pauspapiere in meinem Papierkorb zu lassen. Den hat die Staatssicherheit natürlich geleert und alles als Beweismaterial mitgenommen.
Doris Liebermann, Zeitzeugin auf www.jugendopposition.de