Im Oktober 1968 sitzen drei Jugendliche aus Lübbenau im Gerichtsgebäude von Cottbus auf der Anklagebank. Achim Schiemenz (18 Jahre), Volker Rennert und Klaus-Dieter Wanske (beide 17 Jahre) sind als „Rädelsführer wegen Zusammenrottung und Staatsverleumdung“ angeklagt. Der Richter brüllt auf sie ein und lässt eine Kanonade von Beschimpfungen auf sie niederprasseln. Den tobenden Richter im Ohr, geht Achim Schiemenz immer wieder die Titelzeile eines Rolling-Stones-Songs durch den Kopf: „Time Is On My Side“.
Musik spielt eine große Rolle im Leben der drei Lübbenauer Jugendlichen. Als begeisterte Rockfans diskutieren sie mit ihren Freunden über die neuesten Songs ihrer Idole, die sie verbotenerweise im Westradio gehört haben. Sie tauschen Tonbänder mit Musikmitschnitten und spielen die angesagten Songs auf der Klampfe nach. Da in Lübbenau ansonsten nicht viel los ist, treffen sie sich regelmäßig mit ihren Freunden am Springbrunnen auf dem Marktplatz in der Altstadt. Allabendlich klingen hier das „All You Need Is Love“ der Beatles, „Time Is On My Side“ der Rolling Stones oder Jimi Hendrix` „All Along The Watchtower“ aus einer Kofferheule über den Marktplatz. Immer argwöhnisch beobachtet von den vorbeigehenden Passanten, denn die langen Haare und die Jeansklamotten stoßen nicht überall auf Zustimmung, von der Rockmusik ganz abgesehen.
Doch die Zeit der Idylle ist am 21. August 1968 für die Freunde vorbei. An diesem Tag erfahren sie aus dem RIAS vom Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei und von dem verzweifelten Widerstand der Tschechen. Die Nachricht schockiert sie und sie verstehen die Welt nicht mehr. Sie gehen davon aus, dass auch Truppen der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR an diesem Einmarsch beteiligt sind. „Nie wieder darf von deutschem Boden ein Krieg ausgehen!“ Diese Worte haben sie in ihrem jungen Leben schon so oft gehört und nun das. In der Schule hatten sie noch kurz vorher über den Warschauer Pakt gelernt, dass dieser ein Militärbündnis gegen die äußeren Feinde der sozialistischen Staatengemeinschaft sei. Jetzt aber stehen Panzer dieses Bündnisses auf dem Wenzelsplatz in Prag, der Hauptstadt eines sozialistischen Landes.
„Wir müssen etwas tun! Wir müssen zeigen, dass wir damit nicht einverstanden sind. Das hat mit Menschlichkeit, mit Frieden nichts zu tun.“ Volker Rennert spricht aus, was viele denken und fühlen. Schnell wird der Plan gefasst, sich am Sonnabend, dem 24. August, am Springbrunnen in der Altstadt zu treffen, um gegen den Einmarsch zu protestieren. Zunächst planen sie eine öffentliche Diskussion mit dem Bürgermeister der Stadt, Paul Hentschker, in Form eines Sit-ins, so wie es die Studenten in Frankreich und der Bundesrepublik zur gleichen Zeit erfolgreich praktizieren. Doch der Bürgermeister und andere Kommunalpolitiker verweigern sich der Diskussion.
Inzwischen verbreitet sich die Nachricht von der geplanten Protestveranstaltung schnell unter den Jugendlichen in Lübbenau und der Umgebung. Und so treffen sich am Sonnabend um 19 Uhr zwischen 40 und 50 von ihnen am Springbrunnen. Zunächst wissen sie noch nicht genau, wie es jetzt weitergehen soll, da die geplante Diskussion nicht stattfindet. Spontan setzen sich die Jugendlichen in Bewegung und beginnen eine Demonstration durch die Stadt.
Mit dabei sind auch zwei Plakate, die Achim Schiemenz angefertigt hat. Sie zeigen beide eine Landkarte mit den Umrissen der CSSR. An der Stelle, wo Prag liegt, steht ein Sendemast, der SOS-Zeichen als Hilferufe aussendet. Eingerahmt wird das Bild durch die Textzeile „Völker hört die Signale!“ aus dem berühmten Arbeiterkampflied „Die Internationale“.
Vom Markt bewegt sich der Protestzug zunächst in Richtung Topfmarkt. Weit und breit ist keine Polizei zu sehen, obwohl sie am Torhaus die Polizeiwache passieren. „Je weiter wir liefen, desto mutiger wurden wir“, erinnert sich Achim Schiemenz heute. Immer wieder rufen die Jugendlichen: „Amis raus aus Vietnam, Russen raus aus der CSSR!“, und in Form eines Abzählreimes: „... acht, neun, zehn, Dubcek!“ Aus den Fenstern der anliegenden Wohnhäuser schauen neugierig die Einwohner Lübbenaus auf das Spektakel. Doch so recht trauen sie der Sache nicht; kaum jemand der Erwachsenen reiht sich ein. Als der Demonstrationszug am Bahnhof ankommt, schließen sich weitere Jugendliche an, die – meist über das Vorhaben in Lübbenau informiert – mit Zügen aus Lübben und Cottbus angereist sind. So sind nun etwa 120 Jugendliche friedlich unterwegs, um ihrem Unmut über die Ereignisse in der CSSR Luft zu machen. Es geht dann durch die Neustadt.
Als sich der Zug auf dem Rückweg wieder dem Marktplatz nähert, greifen plötzlich Bereitschaftspolizisten und Staatssicherheitsleute die Jugendlichen mit Knüppeln und Stahlruten an. Wie wild prügeln sie auf die jungen Leute ein. Der Demonstrationszug wird aufgelöst und viele Beteiligte werden verhaftet.
Was die Jugendlichen nun erwartet, lässt in ihnen eine Welt zusammenbrechen. Sie werden wie Schwerverbrecher behandelt, fotografiert, bekommen Fingerabdrücke abgenommen und die Haare geschnitten. Es folgen stundenlange Verhöre bei Tag und bei Nacht, bis zur völligen Erschöpfung.
Im Oktober 1968 findet dann unter Ausschluss der Öffentlichkeit der Prozess gegen Volker Rennert, Achim Schiemenz und Klaus-Dieter Wanske statt, die in den Augen von Polizei und Staatssicherheit die Anstifter der Protestdemonstration sind. Achim Schiemenz, kurz zuvor 18 Jahre alt geworden, wird zu anderthalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, die beiden anderen 17-Jährigen zu einem Jahr und vier beziehungsweise einem Jahr und zwei Monaten.
Kurz vor Weihnachten werden die drei plötzlich und für sie unerwartet aus der Haft entlassen, ihre Gefängnisstrafe wird in eine mehrjährige Bewährungsstrafe umgewandelt. „Time Is On My Side“, denkt sich Achim Schiemenz.
Zitierempfehlung: „Protestzug durch Lübbenau“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145444