Abschrift
Für mich war das natürlich ein Riesenproblem. Diese Maueröffnung kam für mich völlig überraschend. Ich denke, es hängt auch damit zusammen, dass wir in sehr elitären Kreisen gelebt haben. Wir haben in Wohngemeinschaften zusammengelebt, hatten Theologie studiert oder waren in kirchlichen Einrichtungen. Wir hatten den Bezug zum ´normalen` Volk etwas verloren. Und deshalb hat uns diese Forderung zur sofortigen Wiedervereinigung sehr überrascht. Wir hatten immer noch diese Vorstellung, dass wir die Speerspitze einer neuen Massenbewegung sind. Und das stimmte alles gar nicht. Wir hatten weder vor 1990 eine Massenbasis noch danach.
Jens Reich hat das mal schön analysiert. Er sagte 1990: ´Wir stemmten uns als Erste gegen das verrammelte Tor, es brach auf, wir fielen hin, und die Leute überrannten uns. Sie überrannten uns mit Zielen, die wir nicht mehr beeinflussen konnten`. Nach der Kommunalwahl, als das Neue Forum in Leipzig, ich glaube, 1,3 Prozent bekommen hatte, interviewte mich eine Spiegel-Journalistin, und ich hab nur gesagt: ´Man sollte das Volk nicht wählen lassen`.
Das war mein bitterer Kommentar dazu. Das hat mich schon sehr enttäuscht, muss ich sagen. Aber aus heutiger Sicht war es gar nicht anders möglich. Das wird immer vergessen: Es waren die Leute auf der Straße, die die Wiedervereinigung gefordert haben. Es waren die 30.000 Leute in Dresden, die Kohl zugerufen hatten: ´Hol uns heim!`. Es waren die Leute, die mit gepackten Koffern an den Grenzen demonstriert und gesagt haben: ´Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr!`. Ich denke, es war eine Situation, die war anders gar nicht möglich.
Das ist ja das Faszinierende, dass man heutzutage alle Möglichkeiten hat, man muss sie natürlich auch wollen und man muss sie auch wahrnehmen. Man kann sich nicht hinstellen und sagen: ´Es ändert sich sowieso nichts`. Das ist alles Quatsch. Es ist schwerer heutzutage. Man muss viele Bretter bohren, um bestimmte Sachen zu erreichen. Es ist nicht einfach so, dass man heute auf die Straße geht, ein Transparent hochhält, und der Staat bricht zusammen und wird schon reagieren. Das funktioniert heute nicht mehr. Heute muss man viele Kontakte knüpfen. Aber man kann viele Sachen trotzdem erreichen und muss sich politisch engagieren. Und wenn er es nicht macht, ist er selber Schuld.
Uwe Schwabe, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de