Abschrift
Es kamen sehr viele Gruppen aus der ganzen DDR: Theater, Straßentheater, kirchliche Gruppen, die Aufführungen gemacht haben. Das ging bis zum Nachmittag ziemlich gut. Das MfS [Ministerium für Staatssicherheit] wusste natürlich, wer das vorbereitet hatte. Wir haben uns gedacht: `Die werden verhindern, dass wir in die Innenstadt kommen, die werden uns alle festnehmen, am 10. Juni. Wenn wir dann nicht dort sind und die Leute animieren, dort wirklich zu spielen, wird nichts stattfinden.´ Deshalb haben wir in der Gemeinde nachgefragt, ob wir dort übernachten können. Wir haben alle da im Pfarramt übernachtet. Das hat das MfS nicht heraus bekommen. Wir haben früh ein Taxi bestellt, drei Taxen, die gab es zu DDR-Zeiten.
Wir sind am Sonnabend Vormittag in die Innenstadt gefahren. Das MfS stand bei uns zu Hause und hat gewartet, dass wir aus der Tür herauskommen. Es war nichts Schlechtes, dass wir die so hinters Licht geführt haben. In der Innenstadt sind viele Leute einkaufen gegangen. In der Thomaskirche gab es eine Motette des Thomanerchores mit viel Publikum. Auf einmal war Leben in der Innenstadt, Musik, man konnte verweilen, sich hinsetzen. Es war eine tolle Atmosphäre. Dann wurden aber politische Straßentheaterstücke gespielt, von einer Gruppe aus Quedlinburg, mit dem Thema ´Stacheldraht`. Da wurde es den Behörden zu viel, und sie sind eingeschritten. Es fuhren LKW vor.
Das war so gegen zwölf Uhr, als viele Leute zu Hause waren, und nicht mehr so viel Publikum auf der Straße war. Sie fingen an, wahllos Musiker einzufangen. Alles, was ein Instrument hatte, wurde zugeführt, auf die LKW geschleppt. Das war eine gute Aktion. Die Leute, die dort waren, sind freiwillig auf die LKW aufgestiegen, um zu sagen: ´Sie sollen lieber uns festnehmen als die Musiker`. Die LKW waren irgendwann voll, und da hatte man keine Möglichkeit mehr ...
Dann gab es eine Demonstration: eine Polonaise zum Polizeiamt in der Innenstadt. Da haben die Leute einen Sitzstreik gemacht – eine tolle Aktion!
An diesen Tagen waren viele Touristen in der Innenstadt, die zum Thomanerchor wollten. Auf einmal sahen sie: Die führen Musiker zu, die friedlich Musik machen und Lieder spielen. Die werden verhaftet! In welchem Land leben wir denn? Ich hab Freunde gehabt, für die war das der ausschlaggebende Punkt, zu sagen: ´Hier muss ich aktiv werden, in dem Land muss sich irgendetwas ändern`. Oder, es hatte genau den gegenteiligen Effekt, dass die Leute einen Ausreiseantrag gestellt haben und sagten: ´Jetzt ist Schluss!`.
Uwe Schwabe, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de