Abschrift
Moderatorin:
„Die Macht der Worte stieß im Fall Ossietzky-Oberschule – in Pankow ist sie übrigens – an die herrschende Macht, und die scheint allemal stärker zu sein. Der erste Beitrag dazu endete in der Aula der Schule. Dort verwies man die Schüler des Saales. Eine Gelegenheit zur Stellungnahme gab man ihnen nicht, obwohl doch gerade Margot Honecker öffentlich äußerte, dass Anpasser und Duckmäuser in den Schulen nichts zu suchen hätten. Gefragt seien selbständig mitwirkende Schüler. In der altehrwürdigen Erweiterten Oberschule, die von vielen Sprösslingen der Parteifunktionäre besucht wird, unter anderem ja auch von dem Sohn Egon Krenz`, herrschen andere Regeln.
Im Folgenden reden wir mal nicht über die Schüler, sondern lassen sie selbst zu Wort kommen. Sie haben nämlich eine Erklärung verfasst.“
Sprecher:
„Erklärung
Wir werden beschuldigt, wir hätten uns antisozialistisch verhalten. Uns wird vorgeworfen, wir hätten gegen die sozialistische Gesetzlichkeit verstoßen. Es wird uns unterstellt, wir hätten uns organisiert, wir wollten politisch-labilen Schülern unsere Meinung aufzwingen, um so eine pazifistische Plattform zu errichten. Diese Diffamierungen verletzen und empören uns sehr. Die gegen uns beantragten beziehungsweise verhängten Schulstrafen und den Ausschluss einiger von uns aus der Freien Deutschen Jugend empfinden wir als großes Unrecht. Die gegen uns erhobenen Vorwürfe veranlassen uns, noch einmal die Gemeinsamkeiten unserer politischen Überzeugung und damit auch unserer Grundhaltung zu unserem Staat darzulegen.
Wir wollen in der DDR leben und lernen. Wir wollen schöpferisch an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft mitwirken. Wir wollen offen unsere Meinung äußern und sie öffentlich diskutieren. Die politischen Ereignisse auf der ganzen Welt interessieren und beschäftigen uns sehr. Wir stehen zur Friedenspolitik der DDR. Mit unserer antifaschistischen Grundhaltung treten wir gegen neofaschistische Tendenzen unter Jugendlichen auf. Wir alle wurden mit solchen Erscheinungen konfrontiert. Einige von uns wurden von faschistischen Skins angegriffen und beschimpft. Wir werden uns immer und überall gegen solche Erscheinungen wehren!
Unterschrieben von Kai Feller, Benjamin Lindner, Katja Ihle, Alexander Krohn, Shenja-Paul Wiens, Philipp Lengsfeld“
Moderatorin:
„Soweit die Erklärung der Schüler. Die Eltern der Schüler versuchten zunächst, über Eingaben und Beziehungen gegen die unverhältnismäßigen Maßnahmen zu protestieren. Aber Briefe und Eingaben an das ZK, an Egon Krenz, den Rechtsausschuss der Volkskammer, an Hermlin, die Weltbühne und andere Autoritäten erwiesen sich als vergeblich. Hermlin beispielsweise versprach, demnächst an Staatschef Honecker zu schreiben. Ob er das nun getan hat, wissen wir auch nicht.
Am 11. Oktober nutzte der Bezirksschulrat einen Gesprächstermin mit den Eltern Katjas, um ihre Relegierung bekannt zu geben. Am 14. Oktober wurde die Relegierung von Kai, Philipp und Benjamin bekannt. Damit sind die Zukunftschancen der Schüler gleich null.
Auch die letzte Ausgabe der Umweltblätter befasste sich mit diesem Fall. Aber gerade dieser Beitrag kam nicht in Umlauf, weil mal wieder die Staatsorgane aktiv wurden. Und so erschienen die Umweltblätter eben ohne die letzten vier Seiten. Auf diesen letzten Seiten wären eine Chronologie der Ereignisse sowie eine öffentliche Erklärung der Umwelt-Bibliothek zu lesen gewesen. In dieser Erklärung heißt es unter anderem:
Wir protestieren gegen ein Schulsystem, das selbständiges Denken und eigenverantwortliches Handeln zu unterdrücken versucht und stattdessen reflexionsloses Lernen vorgegebener Lehrsätze prämiert. Wir fordern ein Ende des Systems der organisierten Verantwortungslosigkeit auch im Erziehungswesen! Es müssen Garantien für ein Erziehungswesen geschaffen werden, das der Erneuerungsfähigkeit der Gesellschaft nicht im Wege steht, sondern die Fähigkeit junger Menschen zum Nutzen der Gesellschaft fördert.
Lehrer müssen verantwortliche Pädagogen sein, keine willfährigen Werkzeuge der Regierung.
Deshalb fordern wir zunächst die sofortige Wiederaufnahme der vier Schüler in die Pankower Carl-von-Ossietzky-Schule und die Zurücknahme der anderen Strafmaßnahmen!`
Soweit die Erklärung. Wir haben noch eine Stimme zu diesen Vorfällen: ein Kommentar einer DDR-Bürgerin.“
Sprecherin:
„Wenn eine Schule, die den Namen eines der bedeutendsten Humanisten unseres Jahrhunderts trägt, Schüler rausschmeißt, weil sie für eine Welt ohne Waffen und ohne Faschismus eintreten, wenn sich dieser Rausschmiss in Formen vollzieht, die an die Entfernung jüdischer Schüler aus den Schulen des Dritten Reichs erinnert, wenn dieser Rausschmiss dann mit Lüge und Gesetzbruch endgültig gemacht wird, ist es höchste Zeit für Veränderungen. Unsere Schulen brauchen keine neuen Tapeten, sie sind dringend umbaubedürftig. Sie brauchen Lehrer, die ihre Schüler zum kritischen, selbständigen Denken und dem Vertreten einer eigenen Meinung ermuntern. Sie brauchen einen Lehrplan, der die ungehemmte Kreativität der Kinder anregt, und sie brauchen einen Minister, der diese Entwicklung verständnisvoll fördert.
Dies ist eine Frage des Überlebens, denn nur ungebrochene, unangepasste, sich ihres Wertes und ihrer Kraft bewusste Menschen sind in der Lage, die Probleme unserer Zeit, wie Umweltsterben, Todrüstung, Neostalinismus und Neofaschismus, zu meistern.
Die demokratische Umgestaltung unseres Landes muss einen ihrer Hauptschwerpunkte in der Umgestaltung des Bildungswesens haben. Deshalb ist es für die Basisbewegung höchste Zeit, eigene Bildungskonzepte zu entwickeln und zu diskutieren, wie es ihre Aufgabe wäre, Keimzellen eigener Bildungseinrichtungen ins Leben zu rufen.“
Quelle: Radio Glasnost, Oktober 1988