Abschrift
Moderatorin:
„Dann am Sonntag fanden in Ost-Berlin wiederum Informationsabende zum Schülerrausschmiss statt. Im Gemeindesaal der Zionsgemeinde verlasen vor etwa 200 Gästen betroffene Schüler ihre Gedächtnisprotokolle. Wir beschränken uns jetzt allerdings auf einen kurzen Ausschnitt eines Protokolls.“
Sprecher:
„Der Polenartikel, den ich mitgeschrieben habe, regt am Speakers Corner eine lebhafte Diskussion an. In den Pausen streiten viele Schüler über Sinn und Unsinn der Streiks in Polen. Einige Tage später hing am Speakers Corner ein polemischer Artikel gegen die Militärparade. In der Pause unterschreibe ich wie viele andere. Am folgenden Mittwoch hänge ich ein Gedicht an den Speakers Corner, das den Aspekt des leider auch bei uns vorhandenen Waffenfetischismus in die Diskussion um die Militärparade bringt. Es ist kein Angriff gegen die Armee als Institution, sondern eine Kritik überalterter, schlimmer Denk- und Handlungsweisen. Nach einer Stunde ist das Gedicht abgenommen. Am Donnerstag werden vier andere Schüler und ich aus dem Unterricht geholt und einzeln regelrecht verhört. Herr Forner (?), der Schuldirektor, fragt mich, warum ich in letzter Zeit so viel Meinungen geäußert hätte. Ich sage, das sei eher zufällig, nicht beabsichtigt oder gar geplant. Daraufhin werde ich von einer Frau, die gleich neben mir sitzt, über meine Anschauung ausgefragt. Die Antworten werden nicht gewertet, sondern nur mitgeschrieben. An einem Gespräch ist hier niemand interessiert. Man wartet anscheinend darauf, dass ich mich selbst entlarve.
Die Frau sagt: Sie sind für Veränderungen in unserem Land?`
Ich: Ich bin für Reformen, zum Beispiel in unserer Presse.`
Und die Frau weiter: Inwiefern? Sagen sie mir ein konkretes Beispiel!`
Die Berichterstattungen über die BRD. Viele Leute schlagen die Junge Welt auf, lesen nur Arbeitslosenzahlen und Drogentodesfälle. Dann kommt ein Bekannter oder Verwandter und schenkt ihnen einen Kassettenrecorder, weil solche Sachen drüben nun mal billiger sind. Sicher ist es unsere Pflicht, die unmenschlichen Seiten dieser Gesellschaft zu zeigen, doch wird unsere Presse unglaubwürdig, stellt sie den Bundesbürger als Arbeitslosen dar. Wenn die Presse unglaubwürdig wird, schadet sie.`
In dieser Art setzt sie das Gespräch über vierzig Minuten fort und springt von einem Punkt zum anderen. Zum Schluss sagt der Direktor: Ihre Meinung verträgt sich nicht mit den Aufnahmebedingungen zum Abitur. Dort ist verlangt, dass sie fest zu Ihrem Staat stehen und ihn nicht angreifen. Falls Sie Ihre Meinung nicht ändern sollten, müssen wir uns von Ihnen trennen.` Ich will sprechen, doch der Direktor weist mir die Tür.“
Quelle: Radio Glasnost, November 1988