Juni 1976: Jugendliche auf einer Wanderung in Jenas Umgebung. Mit dabei Thomas Auerbach, Jugenddiakon der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte. Er wird 1976 verhaftet und 1977 in den Westen abgeschoben (v.l.n.r. Andreas Fröbe, Detlef Pump, Uwe Behr, Thomas Auerbach, Bodo Sturhann). Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Hans-Helmut Kurz / RHG_Fo_HAB_10766
Mitglieder der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte nehmen 1976 am Landesjugendsonntag der Evangelischen Kirche in Eisenach teil. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Lutz Reimer / RHG_Fo_HAB_12292
Mitglieder der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte nehmen 1976 am Landesjugendsonntag der Evangelischen Kirche in Eisenach teil. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Lutz Reimer / RHG_Fo_HAB_12286
Freche Aussage: Dieses Transparent wird am 1. Mai 1976 am Balkon der Wohnung Jahnstraße 10 in Jena angebracht. Die Losung Nr. 2 in der jährlich zum 1. Mai von der SED veröffentlichten Liste der offiziellen Mai-Losungen lautet: „Proletarier aller Länder vereinigt euch“. Die Idee stammt von Wolfgang Hinkeldey, der im November 1976 nach der Protestaktion gegen die Wolf-Biermann-Ausbürgerung verhaftet wird. Am 2. September 1977 wird er zusammen mit einigen Freunden nach West-Berlin ausgewiesen. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Hans-Helmut Kurz / RHG_Fo_HAB_10750
Unterschriftenliste der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte vom 17. November 1976, mit der sich die Jenaer dem Protest der Berliner Künstler anschließen. Quelle: BStU, MfS, Ast. Gera 740/77, Bd. 3
Der Jugenddiakon der evangelischen Kirche, Thomas Auerbach (29), organisiert am 18. November 1976 die Informationsveranstaltung in der Jungen Gemeinde zur Biermann-Ausbürgerung. Als er inhaftiert wird, unterstützt ihn die Amtskirche nicht. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Hans-Helmut Kurz / RHG_Fo_HAB_10764
Die Kindergärtnerin Kerstin Graf (22) stellt für eine Veranstaltung ihre Biermann-Schallplatten zur Verfügung. Wegen ihrer Kontakte zu Robert Havemann und seiner Tochter Sybille steht sie im Visier der Stasi. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft / RHG_Fo_HAB_18083
Gefährlicher Kurierdienst: In der Nacht vom 16. auf den 17. November 1976 fährt Bernd Markowsky (25, links vor der Bühne) zu Robert Havemann und Jürgen Fuchs nach Grünheide. Nach seiner Rückkehr verliest er am 18. November in der Jungen Gemeinde Robert Havemanns Offenen Protestbrief an die Regierung der DDR. Stunden später wird er verhaftet. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Lutz Reimer / RHG_Fo_HAB_12280
Die Theologiestudentin Doris Liebermann (22, links) vervielfältigt am 18. November 1976 die Schriftstellerpetition, die Jürgen Fuchs kurz vor seiner Verhaftung telefonisch übermittelt. Am 19. November wird Doris Liebermann verhaftet und durch die Stasi verhört (Zeitzeugen-Video). Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Hans-Helmut Kurz / RHG_Fo_HAB_10681
Cleveres Versteck: In der Wohnung von Marian Kirstein (23) werden weitere Unterschriften gegen die Biermann-Ausbürgerung gesammelt. Hier werden auch die Protestresolution der Berliner Künstler und der Protestbrief von Robert Havemann an das Politbüro abgetippt. Vier Exemplare der Unterschriftenlisten versteckt Marian Kirstein in seiner Wohnung im Staubsaugerbeutel. Am 19. November wird er verhaftet. Stasi-Offiziere durchwühlen seine Wohnung, aber die Listen finden sie nicht. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft / RHG_Fo_HAB_18084
Der Krankenpfleger Uwe Behr (20) holt die Unterschriftenlisten gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der Wohnung des gerade verhafteten Marian Kirstein. Der hatte sie dort in einem Staubsaugerbeutel versteckt, sodass die Stasi sie nicht finden konnte. Uwe Behr bringt die Listen nach Berlin. Unterwegs besucht er, gemeinsam mit Gerd Lehmann, Robert Havemann in Grünheide bei Berlin und bespricht das weitere Vorgehen. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft / RHG_Fo_HAB_11274
Wolfgang Hinkeldey (24) gehört zu den Organisatoren der Protestveranstaltung gegen die Biermann-Ausbürgerung. Seine Wohn- und Kellerräume werden mehrfach nach staatsfeindlichen Schriften durchsucht. Am 11. Dezember wird er verhaftet. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Albrecht / RHG_Fo_HAB_18086
Gerd Lehmann und Doris Hardekopf während einer Wanderung. Der 24jährige Gerd Lehmann fährt zusammen mit Uwe Behr nach Berlin, um die Unterschriftenlisten an den Staatschef Erich Honecker, ans Neue Deutschland und an den Spiegel zu senden. Ein Exemplar vergraben sie. Zurück in Jena werden sie verhaftet. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Hans-Helmut Kurz / RHG_Fo_HAB_10729
Der Krankenpfleger Walfred Meier (29) verbreitet die Schriftstellerpetition in Erfurt. Nach seiner Rückkehr wird er an seinem Arbeitsplatz in der Chirurgischen Klinik in Jena verhaftet. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft / RHG_Fo_HAB_18085
Vorgang „Pegasus“: In einem Telegramm lässt sich Stasi-Chef Erich Mielke persönlich über die Aktivitäten der Jungen Gemeinde in Jena unterrichten. Quelle: BStU, MfS, Ast. Gera 740/77, Bd. 3 Abschrift
18. November 1976. Bericht des Stasi-Spitzels mit dem Decknamen „Helmut Falke“ zu den Aktivitäten am 17. November 1976 anlässlich der Biermann-Ausbürgerung. Quelle: BStU, MfS, Ast. Gera 740/77, Bd. 3, Seite 1 von 3 Abschrift
18. November 1976. Bericht des Stasi-Spitzels mit dem Decknamen „Helmut Falke“ zu den Aktivitäten am 17. November 1976 anlässlich der Biermann-Ausbürgerung. Quelle: BStU, MfS, Ast. Gera 740/77, Bd. 3, Seite 2 von 3 Abschrift
18. November 1976. Bericht des Stasi-Spitzels mit dem Decknamen „Helmut Falke“ zu den Aktivitäten am 17. November 1976 anlässlich der Biermann-Ausbürgerung. Quelle: BStU, MfS, Ast. Gera 740/77, Bd. 3, Seite 3 von 3 Abschrift
Die Mitglieder der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte organisieren im Sommer 1977 ein Kinderfest auf einem Sportplatz im Westviertel. Die Jugendlichen versuchen, sich bewusst Freiräume zu erobern, damit sie sich trotz der allgegenwärtigen Stasi-Überwachung austauschen können (3. v. r. Matthias Domaschk). Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Lutz Reimer / RHG_Fo_HAB_12294
Neben dem Offenen Brief der Künstler gegen die willkürliche Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 ist die Unterschriften-Aktion der Jenaer Jungen Gemeinde Stadtmitte die wichtigste Widerstandsaktion. Die Ereignisse in Jena – die Unterschriftensammlung und vor allem die darauf folgende Verhaftungswelle – werden in den oppositionellen Kreisen der ganzen DDR bekannt und führen zu einem erneuten Aufflammen des Widerstands gegen das Regime.
In die meisten Gruppierungen, die der Politik der SED kritisch gegenüberstehen, hat die Geheimpolizei Informanten eingeschleust, so auch in die Junge Gemeinde Stadtmitte. In diesem Fall ist es ein Student, der unter dem Decknamen "Helmut Falke" regelmäßig über die Zusammenkünfte der Jungen Gemeinde beziehungsweise des Lesekreises seine Berichte an die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit liefert. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns schlägt seine große Stunde: Am Abend des 17. November 1976 beschließt die Versammlung, keine Einzelaktionen zu starten, sondern sich Rat bei Robert Havemann und Jürgen Fuchs in Berlin zu holen. Diese Entscheidung meldet "Helmut Falke" direkt an die Stasi. Staatssicherheitsminister Mielke wird sofort telegrafisch über den Stand der Dinge in Jena informiert (Bildergalerie).
Am kommenden Abend, nach der Lesung von Jurek Becker, treffen sich etwa 50 junge Leute in den Räumen der Jungen Gemeinde, unter ihnen auch "Helmut Falke". An diesem Abend wird der Offene Brief der Künstler verlesen. Die Gruppe beschließt, eine Unterschriftensammlung zu starten. Der Spitzel nimmt, unter dem Vorwand, sich das Papier in Ruhe durchlesen zu wollen, eine Abschrift des Offenen Briefs mit nach Hause und bringt ihn zur Kreisdienststelle der Stasi. Die reagiert schnell: Um drei Uhr nachts trifft ein Operativer Einsatzstab aus der Bezirksverwaltung Gera ein, morgens um fünf Uhr sind die Einsatzpläne fertig, um sechs beginnen in Jena die Verhaftungen. Insgesamt werden 40 Personen zu Verhören abgeholt, unter ihnen auch Thomas Auerbach und seine damals 22-jährige Freundin Doris Liebermann. (Doris Liebermann berichtet im Zeitzeugen-Interview darüber.) Thomas Auerbach und einige seiner Freunde bleiben in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: staatsfeindliche Gruppenbildung.
Der 23-jährige Marian versteckt Beweismaterial im Staubsauger
Im Gefängnis versucht die Stasi, die Jenenser durch Isolationshaft und Psychoterror zu Geständnissen zu bewegen. Viele der Verhafteten sind gerade erst Anfang 20. Ihre Wohnungen werden unterdessen nach belastenden Materialien durchwühlt. Doch es gelingt der Stasi (noch) nicht, die Unterschriftenliste vom 19. November zu finden. Marian Kirstein (23) hat sie nämlich im Staubsaugerbeutel versteckt.
Im Westen reagieren Gruppen wie das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ sofort auf die Verhaftungswelle. In einer Protestresolution erklären prominente Unterstützer des Schutzkomitees ihre Solidarität, unter ihnen Otto Schily, Max Frisch und Romy Schneider.
Ein offizieller Prozess wird gegen die Mitglieder der Jungen Gemeinde nie geführt. Im September 1977 werden sieben der acht Inhaftierten nach West-Berlin abgeschoben – bei einer Weigerung drohen zwölf Jahre Haft. Dass die Jenaer Szene damit nicht unter Kontrolle gebracht ist, zeigt die Entwicklung der Friedensgemeinschaft Jena in den folgenden Jahren.
Zitierempfehlung: „Die Aktion der Jungen Gemeinde Stadtmitte“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145383
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Ich hatte mich darauf eingerichtet, dass unsere Jenaer mehrere Jahre Haft kriegen. Nun kommt ja noch hinzu, dass wir Wolfgang Schnur als Rechtsanwalt hatten. Der kam auch immer und schüttelte den Kopf: ´Ich weiß gar nicht, was sie denen vorwerfen ...`. Der spielte eben auch schon ein doppeltes Spiel. Dass er nämlich schon in diese Pläne eingeweiht war, dass es irgendwann auf die Ausbürgerung hinausläuft, im Laufe der Monate, die so ins Land gingen. Es muss im Frühsommer 1977 gewesen sein, als er sagte: ´Wenn die hier im Gefängnis bleiben, dann werden das drei bis zwölf Jahre. Acht Jahre kriegen die ganz bestimmt.`
Er bereitete einen auch darauf vor, dass es ganz furchtbar wird. Und sagte, es gäbe aber noch die andere Möglichkeit: die Ausreise in den Westen. Alle acht Inhaftierten hätten zugestimmt. Wir als Angehörige würden sozusagen zählen. Ich und noch drei andere. Was wir denn machen würden? Da haben wir natürlich gesagt: ´Wenn die ausgebürgert werden, gehen wir mit`.
Jürgen Fuchs, Gerulf Pannach und Christian Kunert sind Ende August aus Hohenschönhausen [Stasigefängnis] nach West-Berlin gebracht worden, die Jenaer am 2. September. Eigentlich passierte gar nichts. Irgendwann tauchte bei mir die Abteilung Inneres auf, und zwar am 15. Dezember 1977. Sie sagte mir: ´Innerhalb von zwei Tagen müssen sie die DDR verlassen haben`. Meine Mutter kam noch, weinte bitterlich. Wir hatten noch verschiedene Treffen, auch in der Jungen Gemeinde, und dann ging alles ganz schnell. Am 17. Dezember, das war übrigens mein 24. Geburtstag, sind wir früh nach Jena gefahren. Wir, das heißt: Andrea Tott, die damals mit Wolfgang Hinkeldey zusammenlebte, und ich. ... Mit uns fuhr, rein zufällig, unser Spitzel [mit dem Decknamen] "Helmut Falke", den ich auch schon in Verdacht hatte. ... Er gab vor, er müsste zu einer Schulung. Er war aber noch so freundlich, uns die schweren Koffer vom Bahnhof Friedrichstraße zum Tränenpalast zu schleppen. Naja, und da sind wir ausgereist.
Doris Liebermann, Zeitzeugin auf www.jugendopposition.de