Ende 1988 sitzen in der DDR rund 110.000 Menschen auf gepackten Koffern. Sie haben Ausreiseanträge gestellt und wollen der Perspektivlosigkeit des „real existierenden Sozialismus“ entfliehen. Nachdem die SED der Öffnungspolitik von Glasnost und Perestroika eine eindeutige Absage erteilt hat, haben sie, wie viele andere auch, den Mut verloren. Ihr einziges Ziel: weg in den Westen, egal wie.
Das Grenzregime der DDR ist mittlerweile so perfektioniert, dass die Menschen kaum noch über die Mauer fliehen können. Bei einem Fluchtversuch am 6. Februar 1989 wird Chris Gueffroy, 20 Jahre alt, durch Grenzsoldaten erschossen. Er ist das letzte Todesopfer am „Antifaschistischen Schutzwall“, wie die Mauer im offiziellen DDR-Sprachgebrauch heißt.
Nur wenige Monate später, im Mai 1989, öffnet der Abbau der Grenzanlagen im Bruderland Ungarn Hunderten DDR-Bürgern einen neuen Fluchtweg. Ausreisewillige besetzen die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest und erzwingen so im August und September 1989 ihre Ausreise. Unter dem Druck der Ereignisse genehmigt die DDR-Führung nun auf einen Schlag eine große Zahl von Ausreiseanträgen.
1988: Mindestens 110.000 Menschen wollen raus aus der DDR
Damit glaubt die SED, wie 1984 schon einmal, ein Ventil öffnen zu können. Damals wurde innerhalb kurzer Zeit rund 21.000 Anträgen stattgegeben. Bevorzugt wurden dabei diejenigen, die sich aktiv und öffentlich für ihre Ausreise engagierten oder anderweitig den sozialistischen Alltag störten. Doch die Genehmigung der Ausreiseanträge 1989 hat keine Ventil-, sondern eine Sogwirkung: In diesem Sommer steigt die Zahl der Antragsteller im ganzen Land sprunghaft an (Bildergalerie).
Am 10. September 1989 öffnet Ungarn schließlich seine Grenze nach Österreich, was eine Massenflucht von DDR-Bürgern zur Folge hat. Es fliehen vor allem junge Leute, Schüler, Studenten, Lehrlinge, junge Arbeiter, oft ohne das Wissen ihrer Eltern, Freunde und Angehörigen. Jetzt können die offiziellen DDR-Medien das Problem nicht mehr totschweigen. Verlassene Wohnungen in der ganzen Republik und leer bleibende Arbeitsplätze sprechen Bände.
Auf die Massenflucht reagiert die Partei- und Staatsführung mit einem starrsinnigen Propagandafeldzug. Diejenigen, die fliehen, werden in Zeitungsartikeln und Fernsehkommentaren als Verräter und Undankbare gebrandmarkt, „die die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt haben“. Diesen Menschen, so erklärt der DDR-Staatschef Erich Honecker noch im Oktober 1989, dürfe man „keine Träne nachweinen“. Die Bundesrepublik wird von der DDR-Spitze mit absurden Vorwürfen wegen Menschenhandels konfrontiert: Angeblich sollen bundesdeutsche Agenten friedliche DDR-Bürger mit allen Mitteln in den Westen locken oder sogar verschleppen.
Innerhalb der oppositionellen Gruppen ist das Thema Ausreise schon seit Langem heiß umstritten. (Peter Grimm berichtet darüber im Zeitzeugen-Interview.) Die Entscheidung, die Heimat DDR zu verlassen – was in der Regel bedeutet, sie für immer zu verlassen –, macht sich keiner leicht. Bei vielen DDR-Bürgern sind es vorrangig wirtschaftliche Gründe, die sie aus dem Land treiben. Aber auch die politische Einengung, das Verwehren von grundlegenden Menschenrechten und die gesellschaftliche Perspektivlosigkeit führen dazu, dass sich Bürger von ihrem Staat abwenden.
Die Wirtschaft liegt am Boden, viele sehen keine Zukunft mehr
Bei denen, die sich in der Opposition aktiv gegen den Staat engagieren, kommen zu diesen Ausreisegründen noch die dauernden Repressionen, wie Berufs- und Bildungsverbote oder gar Verhaftungen und Verurteilungen, hinzu. Dennoch ist die Entscheidung, das Land zu verlassen, gerade für Oppositionelle besonders schwer: Heißt es doch, sich endgültig geschlagen zu geben und seine Mitstreiter im Stich zu lassen. Denn für die zahlenmäßig schwache DDR-Opposition bedeutet die Ausreise jedes Mitglieds einen spürbaren Verlust. Viele behaupten dennoch, ihre Flucht in den Westen sei die radikalste Absage an das DDR-System und trage maßgeblich zum Zusammenbruch des Staates bei.
Einige der ausgereisten oder zwangsausgebürgerten Oppositionellen, wie Doris Liebermann, Roland Jahn oder Jürgen Fuchs, unterstützen den Widerstand gegen das SED-Regime aktiv vom Westen aus. Der großen Mehrheit der ausgereisten Oppositionellen gelingt es jedoch nicht mehr, aktiv von außen auf die Diktatur in der DDR einzuwirken. Viele verlieren sogar ganz den Kontakt zu ihren früheren Freunden und Mitstreitern.
Zweifellos sind es letztlich beide Bewegungen, die zur Revolution in der DDR führen: die Ausreisenden und die Oppositionellen, die im Land bleiben. Den SED-Oberen machen im Sommer 1989 die Botschaftsbesetzungen und die Massenflucht über Ungarn ebenso zu schaffen wie Tausende von Demonstranten, die in Leipzig und Berlin öffentlich trotzig skandieren: „Wir bleiben hier!“.
Zitierempfehlung: „Ausreisewelle“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145317
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Dass Leute einen Ausreiseantrag stellten, war wie so ein Grundton in unserem Leben, so ein Ostinato. Und das war jedes Mal eine traurige Angelegenheit. Wolf Biermann hat einmal in einem Lied die Zeile verwendet: „In den Westen gestorben“. Das soll ja ausdrücken, dass es ein großer Verlust ist, wenn jemand in den Westen geht, und so haben wir das auch empfunden. Jeder, der im Widerstand war, der protestiert hat und der unzufrieden war, bereicherte uns ja, machte uns stärker. Und wenn Menschen weggingen, fühlten wir uns geschwächt, ganz abgesehen von dem oft auch persönlichen Abschiedsschmerz. Wir wussten ja alle nicht, wann wir uns je wiedersehen würden. Wir haben es als eine Schwächung empfunden, und manchmal habe ich es auch als Verlassenwerden interpretiert. Ich glaub, ich habs oft auch übel genommen, wenn Leute in den Westen gegangen sind. Das war widersprüchlich. Einerseits haben wir uns natürlich für Freizügigkeit eingesetzt. Wir wollten, dass alle, die das wünschen, das Recht haben, in den Westen zu gehen. Aber die, die das Recht für sich Anspruch genommen haben, die hatten es dann gar nicht so leicht in Kreisen der Opposition, weil die Menschen ja irgendwie mit ihrem Schmerz umgehen mussten und der Schmerz sich gegen die Antragsteller, so hießen die immer, gewendet hat. Das war eine, glaube ich, für beide Seiten belastende Situation.
Und ich denke auch, dass wir vielen, die damals ausgereist sind, Unrecht getan haben. Um damit fertig zu werden, haben wir so einen Mythos des Dableibens entwickelt, um uns damit ein bisschen besser zu fühlen. Wir fanden, dass die, die dableiben, stärker sind, sich durchsetzen, nicht ausweichen vor den Konflikten. Das war, wenn ich das jetzt betrachte, doch eine sehr verwickelte Situation. Und die Art und Weise, wie wir versucht haben, mit diesem Trennungsschmerz umzugehen, die lohnt, dass man es sich noch einmal anguckt und vielleicht auch miteinander noch einmal darüber spricht.
Etwas später dann, als die Mauer gefallen war, kamen ja manche sofort zurück. Die waren heilfroh, dass sie endlich wieder dorthin konnten, wo sie gelebt hatten, wollten mit anpacken, auch sich politisch engagieren, tun, was zu tun war, und kriegten dann häufig die kalte Schulter gezeigt so nach dem Motto: Damals hat du uns verlassen, dann brauchst du jetzt auch nicht anzukommen. Traurige Geschichten eigentlich.