Abschrift
„Ich bin also in den Nachbarort gerannt, weil ich dort mit einer Schülerin Kontakt hatte. Ihre Eltern hatten dort einen Bauernhof. Ich bin dort hingegangen, das Mädchen lebt nicht mehr, dann habe ich ihr gesagt: ,Hast du gehört, heute früh in der Schule? Ich gehöre auch dazu, und ich muss weg.' Ihr Vater war gefallen, und ich hab gesagt: ,Hast du einen Anzug von deinem Vater? Vielleicht passt der mir. Aber sag niemanden was.'
Da hat sie trotzdem ihre Mutter eingeweiht. Und die war gleich behilflich, hat mir einen Anzug gegeben und Schuhe, die mir dann ein bisschen zum Verhängnis geworden sind, weil sie nicht genau passten. Sie gab mir noch ein bisschen Geld und plötzlich, ich bin gerade beim Umziehen, fährt ein Motorrad in den Bauernhof rein. Ich hab gesagt: ,Isolde', so hieß das Mädchen, ,ich kann nicht abhauen.' Sie: ,Bleib ruhig, das ist der und der. Der Bruder von einer Schulfreundin aus dem Dorf.' Ich sag: ,Du solltest doch niemandem was sagen.' Und der kommt rein und sagt: ,Hör zu, ich weiß, was los ist, wo willst du denn hin?'. Ich hab gesagt: ,Ich will Richtung Sonneberg, da weiß ich, wo es über die Grenze geht.'
Da bin ich die Jahre vorher immer zu meinen Großeltern über die grüne Grenze, war damals nicht ganz einfach. Auch gelegentliche abenteuerliche Grenzwechsel. Da wollte ich hin. Und da sagt er zu mir: ,Komm, ich kann dich nicht bis dort hin fahren, aber setz dich hinten drauf, wir fahren bis Weida.' Es war schon langsam Abend geworden. Wir kommen in Weida am Bahnhof an. War stockfinster, das heißt, ein paar Lampen brannten schon. Die Sperre war schon zu. Wir gehen dort hin, gucken, wann der nächste Zug fährt. Das war erst am nächsten Morgen.
Wir sprechen noch ein paar Worte miteinander, da kommen zwei auf uns zu, in zivil. ,Ihre Ausweise.' Ich hatte natürlich gar nichts. ,Ihre Ausweise!' Da dachte ich: Na, weit bin ich nicht gekommen. Und da sagt der – ich hab den vorher nie gekannt, und hab den später nie mehr getroffen –, der sagt: ,Ich hab meinen Ausweis am Motorrad', geht auf das Motorrad zu, das war ungefähr zehn Meter weg. Er geht los, die beiden gehen mit ihm, drehen mir den Rücken zu, ich schwing mich über die Barriere, renne über die Gleise, hör bloß noch, wie sie schreien: ,Stehen bleiben, oder ich schieße.' Es knallt, ich war inzwischen schon über die Gleise weg, roll den Bahndamm runter. Unten erst mal toten Mann gespielt. Dann war ich zwei Tage und zwei Nächte zu Fuß unterwegs.“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur