Abschrift
„Ich hab kein Geld gehabt, um mir zum Beispiel eine Fahrkate zu kaufen. Ich hab dann meine Freundin angesprochen, die Annemarie, und hab zu ihr gesagt: ,Hör zu, das und das ist passiert'. Die wusste vorher von nichts. An diesem Vormittag habe ich ihr das gesagt. Die hatte eine Bäckerei. Aus der Ladenkasse haben wir Geld rausgeholt, und sie hat mich noch gefragt: ,Was hast du denn vor?'. Ich hab gesagt: ,In der Nacht hau ich ab'.
Nachts wieder aus dem Fenster gestiegen, so wie bei der Flugblattaktion, damit meine Eltern nicht irgendwie belastet werden. Die sollten gar nichts wissen. Bis zur Nacht waren es noch einige Stunden, es war um die Mittagszeit. Ich ging nach Hause. Wir wohnten in einem Haus außerhalb, riesengroßer Garten dabei. Unser Hauswirt hatte ein Schaf, das musste geschoren werden, und ich half ihm dabei. Ich hatte also eine Turnhose, ein Turnhemd und Turnschuhe an, sonst nichts. Das Geld hatte ich in meinem Zimmer. Ich hatte nichts, gar nichts eingesteckt. Da merkte ich, wie ein Auto vorfuhr. Das war bei uns in der Ecke damals ganz selten. Durch die Büsche habe ich gesehen, wie zwei Männer in – ich würde sagen – schwarzer Uniform auf das Gartentor zugingen und klingelten. Meine Mutter rief raus, und da hieß es: ,Wir wollen den Achim Beyer sprechen'. Ich hörte das so ums Haus herum. Ich ließ das Schaf einfach fallen, der Hauswirt tobte: ,Was machst denn du?'.
Ich rannte los, quer über das Grundstück, in die andere Richtung. Damals war ich ziemlich sportlich. Mit der Flanke über den Gartenzaun und dann mit Karacho in den Wald, der war gleich in der Nähe. Dort erstmal ausgeschnauft und überlegt, was tun? Kein Pfennig Geld, nicht einmal vernünftige Kleidung. Ja, das muss man sich alles besorgen, klickte das irgendwie da oben. In der Nähe war eine große Doppelvilla. Es kannten sich ja alle untereinander. Ich wusste, der Hausmeister von der Doppelvilla, der war gleichzeitig Gärtner. Da war eine große Gärtnerei dabei, und ich bin in die Gärtnerei geschlichen und wollte mir dessen Arbeitskleidung einfach klauen. In dem Moment kam der rein. ,Was machst denn du hier?'. Da habe ich gesagt, dass hinter mir die Polizei her ist, wir hätten Flugblätter verteilt. Da sagte er: ,Jetzt warte mal, ich komme gleich wieder'.
Da ging mir alles Mögliche durch den Kopf. In dem Haus gab's ein Telefon, und ich hab gedacht: ,Will der anrufen?'. Wusste man ja nicht. Ich kannte zwar die Tochter recht gut. Ich nahm wirklich an, damit habe ich Jahrzehnte lang gelebt, dass der mir gefährlich werden könnte. Denn er hatte vorher gesagt, dass er Angst hätte. Ich hab gesagt: ,Ich nenne den Namen jetzt nicht, gehen Sie weg, Sie haben mich nicht gesehen! Ich klau einfach was, dann wissen Sie nichts davon'. ,Nein, bleib hier, ich komm gleich wieder.' Da bin ich weg gerannt. Woanders hin.
Und vor einem Jahr rief mich die Tochter von dem Mann an. Ich habe überhaupt nicht mehr gewusst, wo die lebt. Ruft mich an und sagt: ,Du, hör zu, ich habe lange mit meinem Mann darüber gesprochen, ob ich das mit dir besprechen soll. Es geht um Folgendes...'.
Sie erzählte mir dann, dass der Vater nach einer Viertelstunde aus der Wohnung gekommen war, mit einem Anzug, mit Schuhen und gefragt hatte, wo der Achim geblieben wäre. Und ich war nicht mehr da. Da hat das Mädchen ihren Vater gefragt: ,Ja, was ist denn?'. ,Das erzähl ich dir jetzt nicht.' Jahrelang hatten sie nicht darüber gesprochen. Der Mann ist gestorben, ohne dass ich mich bei ihm entschuldigt habe, dass ich ihn falsch eingeschätzt hab. Der konnte von mir nicht mehr erfahren, was ich darüber dachte. Das berührt mich schon. Darüber habe ich jetzt mit der Tochter ausgiebig gesprochen.“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur