Abschrift
„Der Prozess begann um Zehn. Es gab ein paar Pausen, auch die Mittagspause. Die sind nicht genau protokolliert, aber die waren nicht sehr lang. Der Prozess ging bis in die Abendstunden hinein. Am 3. Oktober war Prozessbeginn, die Urteilsverkündung war am 4. Oktober um 0.30 Uhr, laut der amtlichen Protokolle. Dieser 4. Oktober war mein 19. Geburtstag. Die Urteilsverkündung war vorbei, und statt dass die Leute zusammenbrachen oder so, nein: Die stürmten alle auf mich zu und sagten: ,Mensch, wir gratulieren dir zum Geburtstag!'. Da waren die natürlich alle entsetzt.
Jetzt muss ich noch kurz rückblenden. Wir wurden in diesen Saal geführt, den ich im vorigen Jahr mit einem der Freunde wieder aufsuchte. Wir wurden in den Saal geführt, saßen vorn. Neu konstruiert, wer neben wem saß. Hinter uns eine Reihe Volkspolizisten. Ich war froh, dass die hinter mir waren. Denn dann kamen Zuhörer rein, und davon kannte ich fast keinen. Ein paar kannte ich – zum einen meinen Klassenlehrer, zum zweiten meinen Schulleiter. Und dann kamen zwei von der FDJ-Jugendschule, der Schulleiter und der Lehrgangsleiter. Die kamen auf mich zu, um mich prügeln zu wollen. Da hat mich die VOPO vor den Beiden geschützt. Ich konnte das nachvollziehen: Ein Zögling von denen steht plötzlich vor Gericht, als Staatsfeind besonderer Art. So sah es ja aus, unter deren Gesichtspunkt.
Noch einen kleinen Schritt zurück: Die Anklageschrift war eine Vorverurteilung. Man sprach nicht von Angeklagten, sondern von Elementen, die sich durch ihre Tat aus der Gemeinschaft der friedliebenden 800 Millionen Menschen ausgeschlossen haben. Solche Formulierungen sollte man vielleicht wirklich mal im Originaltext nachlesen. Vorher gab es noch etwas, was wir dann erst erfuhren. Die Schulleitung – oder das Lehrerkollegium – hatte uns ausgeschlossen und einen Brief an die Eltern gerichtet, mit der Maßgabe, nie mehr eine Oberschule der DDR besuchen zu dürfen. Da waren wir noch gar nicht verurteilt. Das sind alles solche Dinge, die berührten uns am Rande, aber zeigen natürlich, wie die Situation damals war.
Was für uns natürlich erschreckend war: Es waren keine Angehörigen beim Prozess da. Wir haben die Rechtsanwälte gefragt, und die sagten uns: ,Ja, es ist nicht gestattet worden, dass die Angehörigen teilnehmen.'“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur