Bereits im Frühjahr 1984 wenden sich Vertreter der Ostberliner Kirchenleitung an staatliche Stellen: Sie möchten im Juni 1987, dem Jahr des 750-jährigen Gründungsjubiläums Berlins, einen großen evangelischen Kirchentag in der DDR-Hauptstadt veranstalten. Die Behörden signalisieren Entgegenkommen, machen die Genehmigung aber von der Kooperationsbereitschaft der Kirchenleitung abhängig. Diese Konstellation ist eine der Hauptursachen dafür, dass die Kirchenleitung zunehmend Kurs gegen die Basisgruppen aufnimmt.
So gelingt es der Berliner Offenen Arbeit (vor allem vertreten durch Uwe Kulisch, 28, Herbert Mißlitz, 25, und Rüdiger Stahnke, 24) im Herbst 1985 zwar, mit der Kirchenleitung um ein eigenes Gemeindezentrum zu verhandeln. Diese Verhandlungen ziehen sich jedoch über Monate hin. Und Ende 1986, mit dem Verkauf einer Kirche an die Innere Mission, wird schließlich deutlich, dass die Kirchenleitung eine Einigung mit der Offenen Arbeit gar nicht anstrebt.
1986 verbietet der GeneralsuperintendentGünter Krusche, der für die Stasi als IM „Günter“ tätig ist, die für 1987 geplante Friedenswerkstatt und setzt damit eine der staatlichen Hauptforderungen für die Genehmigung des offiziellen Kirchentags durch. Anfang 1987 wird auch die geplante Nachfolgeveranstaltung der Bluesmessen zugunsten des Kirchentags aufgegeben.
Mehrere Basisgruppen wollen einen Kirchentag von Unten
Um die Jahreswende einigen sich verschiedene Basisgruppen auf einen ähnlichen Kurs: die Friedenkreise Berlin-Friedrichsfelde und Alt-Pankow, die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), die Offene Arbeit, die Umwelt-Bibliothek (UB), die Gruppe Gegenstimmen sowie zahlreiche Basisgruppen außerhalb Berlins. Alle sind sie über die staatsnahe Haltung der Kirchenleitung frustriert. Sie einigen sich auf die Durchführung eines Kirchentags von Unten als Gegenveranstaltung zum offiziellen Kirchentag. Doch noch immer ist das Problem geeigneter Räumlichkeiten nicht gelöst. Der Druck auf die Kirchenleitung wird erhöht.
Um eine drohende Kirchenbesetzung zu verhindern, stellt die Kirchenleitung dem Kirchentag von Unten schließlich vom 24. Juni bis 26. Juni 1987 die Gemeinderäume der Friedrichshainer Pfingstkirche am Petersburger Platz zur Verfügung. Damit gibt sie dem von allen Seiten auf ihr lastenden Druck nach.
Der Besucheransturm von ca. 6.000 Leuten übertrifft alle Erwartungen. Am zweiten Tag muss die nahe gelegene Galiläagemeinde zusätzlich Räume für die Besucher des Kirchentags von Unten zu Verfügung stellen. Es gibt Veranstaltungen mit systemkritischen Künstlern wie Stephan Krawczyk und Peter Wawerzinek. In Gesprächsrunden und bei Videovorführungen werden Themen wie Atomkraft, Strafrecht der DDR oder das Verhältnis zu den oppositionellen Bewegungen in Osteuropa diskutiert. Viele Basisgruppen stellen ihre Arbeit vor.
Kirchentag von Unten hat große Resonanz
Theologische Schwerpunkte werden unter Titeln wie „Jesus kommt von unten“ oder „Neuer Wein in neue Schläuche“ in einigen der insgesamt zehn „fliegenden Papiere“ veröffentlicht. Zur Abschlussveranstaltung des offiziellen Kirchentags demonstrieren Teilnehmer des Kirchentags von Unten mit Plakaten und Spruchbändern wie „Glasnost in Staat und Kirche“, „Theologie der Befreiung – auch für uns“. Das tun sie im Stadion Alte Försterei in der Wuhlheide. Ein eigener Redebeitrag wird den Vertretern des Kirchentags von Unten verwehrt.
Motiviert durch den großen Zuspruch, beschließen die Organisatoren die Gründung der Kirche von Unten (KvU), über deren Ziele Reinhard Schult im Zeitzeugen-Interview berichtet. Bis sie eigene Räume in der Elisabethkirchgemeinde bekommen, vergeht noch über ein Jahr. Als Basisgemeinde arbeitet die KvU dennoch weiter und bezieht zu allen innenpolitischen Themen öffentlich Stellung. Mitarbeiter wie Silvio Meier (22), Christiane Schidek (27) und Dirk Moldt (24) organisieren zum Beispiel das Konzert am 17. Oktober 1987 in der Zionskirche, das von Neonazis überfallen wird. Die KvU beteiligt sich maßgeblich an der Öffentlichkeitsarbeit, die dazu beiträgt, ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf rechte Jugendliche in der DDR herbeizuführen.
Ab Januar 1989 verfügt die KvU über einen großen, viel genutzten Veranstaltungsraum und wird, unterstützt von Mitarbeitern wie Silke Ahrens (24), Jörn Fincke (24) und Matthias Pesztránszky (24) bald zu einem Zentrum der Berliner Basisbewegung. Zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit kommt es besonders mit der nahe gelegenen UB. Im Mai 1989 laufen hier zum Beispiel die Ergebnisse der unabhängigen Stimmauszählung bei der Kommunalwahl zusammen. Geprägt von der herrschaftskritischen und anarchistischen Orientierung der Offenen Arbeit, ist die KvU regelmäßige Anlaufstelle für viele Jugendliche. Im Frühjahr 1989 gründet sich hier die Jugendantifa.
In der Revolutionszeit 1989 gehören die Räumlichkeiten und Druckereien der KvU zur wichtigen Infrastruktur, die den neuen Gruppen zur Verfügung gestellt werden kann. Zahlreiche Angehörige der KvU, wie Marion Seelig, Reinhard Schult, Katrin Kadasch und Joe Müller, arbeiten in Initiativen wie der Vereinigten Linken, dem Neuen Forum oder in der sich formierenden Hausbesetzerbewegung mit.
Zitierempfehlung: „Kirche von Unten“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Oktober 2017, www.jugendopposition.de/145405
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Sprecher: „750 Jahre und kein bisschen weise`, so lautet der Spruch auf einem selbstgemachten Aufkleber aus Berlin, Hauptstadt der DDR. Sowohl in Ost- als auch in West-Berlin haben die offiziellen Selbstdarstellungen ihr notwendiges Korrektiv erhalten. Die Zusammenstöße zwischen jugendlichen Teilen der DDR-Gesellschaft am Brandenburger Tor zu Pfingsten und zwischen sozial Unterprivilegierten im Mai in Kreuzberg mit den jeweiligen polizeilichen Ordnungshütern signalisierten schwärende Konflikte unter der allgemeinen Oberflächlichkeit von Jubelfeiern und Massenveranstaltungen. Im Jubiläumsjahr war es der DDR-Kirche gestattet worden, im Juni offizielle Kirchentage durchzuführen. Der alternativ dazu von Basisinitiativen, Öko-, Friedens-, Frauen-, Menschenrechts- und Minderheitengruppen selbst organisierte Kirchentag von Unten fand vom 26. bis zum 28. Juni in der Pfingstgemeinde in Ost-Berlin statt. In seinem Kern ein Protest gegen Kirchen- und Staatsbürokratie, wurde in dieser größten alternativen geduldeten Veranstaltung`, wie die Westberliner Tageszeitung sie nannte, nicht nur der Frust der Verhältnisse deutlich, sondern auch Lust gemacht auf Veränderungen und Entwicklungen. Die evangelischen wie die katholischen offiziellen Kirchenstrukturen als Teile der DDR-Variante real-sozialistischer Verfremdungen sind heute in einem ähnlichen Dilemma wie die staatlichen Institutionen und Organisationen. Es genügt nicht mehr, ihre Akzeptanz aus der Vergangenheit herzuleiten, sondern es müssen Antworten auf die gegenwärtigen Fragestellungen gefunden werden. In einem Papier zum Kirchentag von Unten wurde die Situation wie folgt beschrieben:“
Sprecherin: „Wie in allen hoch entwickelten Industrieländern gibt es auch in der DDR ein sogenanntes Jugendproblem. Zu fragen ist, ob das wirklich bloß ein Problem der Jugend ist. Äußerlich erkennbar ist dies bei einer Minderheit an dem äußeren provozierenden Erscheinungsbild, an bestimmten aufsässigen und aggressiven Verhaltensweisen, an bestimmten Folgeerscheinungen, zum Beispiel Alkoholismus, Kriminalität, unbewusster und bewusster Widerstand gegen etablierte Ordnungen. Mit den genannten Erscheinungen wird auf die unterschiedlichste Weise nicht nur Unbehagen an der Gesellschaft artikuliert. Es wird auch ein positives Verlangen signalisiert. Der Mensch erfährt sich als auswechselbares Rädchen einer apparatehaften, funktionierenden Maschinerie. Es wird über ihn verfügt. Er ist eine Nummer. Verantwortung wird abgenommen. Strukturen, Institutionen, Regeln, Gesetze, Wertmaßstäbe sind nicht mehr einsehbar und wirken sich als Zwänge aus. Das Jugendproblem ist in Wirklichkeit ein Problem der Gesamtgesellschaft und der Kirche und Gemeinden. Statt Selbstbestimmung zu gewähren, wird ermahnt, belehrt, angeordnet, angepasst, vorgeschrieben, ausgegrenzt, kontrolliert, beargwöhnt, indoktriniert.“
Sprecher: „Um solchen und ähnlichen Zwängen zu entkommen, versuchen Menschen seit eh und je, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu hinterfragen, zu analysieren und zu ändern. Auch in der DDR finden solche Versuche auf unterschiedlichen Ebenen statt. Der Kirchentag von Unten übernahm die Aufgabe, einige der aktuellen Probleme grundsätzlich und öffentlich zu benennen und nach Auswegen zu suchen.“