Abschrift
Und dann kam aber auch hinzu, dass natürlich viele dieser älteren Herren in der Kirchenleitung 1953 das erlebt hatten, den Volksaufstand und vor allem die Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953, und erlebt hatten, wie die Panzer fuhren in Richtung Erzgebirge, als 1968 die Tschechoslowakei besetzt wurde von fünf Armeen ringsherum. Und diese Leute hatten eine uns verständliche Angst. Die Angst saß tief bei all diesen alten Herren, und sie wollten so was nicht wieder erleben. Und sie meinten, wenn wir zu weit gehen, wenn die jungen Leute vorpreschen würden ohne Rücksicht, dann kommt es wieder zu irgendwelchen grausigen Zuständen. Da wird der Herr Staat hart durchgreifen, dann wird vielleicht wieder Armee einschreiten, da werden vielleicht wieder die Panzer auffahren. Und aus solchen und anderen Gründen heraus – ein paar wenige Leute waren natürlich auch bei der Staatsicherheit engagiert, hatten da, sagen wir mal, heimlich gegen uns gewirkt – gab es immer wieder kirchliche Widerstände gegen die Gruppen, die montags die Friedensgebete gestalteten.
Und da kam es dann dazu, dass der Superintendent Magirius von dem Leipziger Kirchenbezirk Ost letztendlich dem Pfarrer Christoph Wonneberger die Gestaltung und die Koordinierung der Friedensgebete und die Koordinierung der Gruppen, die die Friedensgebete gestalteten, aus der Hand nahm, ihm abnahm, wegnahm. Die Gruppen wurden abgesetzt von der Gestaltung der Friedensgebete. Die Kirchenleitung gestaltete selbst die Friedensgebete oder die Kirchgemeinde, Nikolaikirchgemeinde, gestaltete selbst die Friedensgebete, segnete im Nachhinein diesen Alleingang des Superintendenten ab, setzte eine andere, feste Ordnung durch und die Gruppen waren ausgeschlossen von der Gestaltung. Wir haben dann versucht, innerhalb der Kirche im Anschluss an das Friedensgebet öffentlich zu machen, was hier passiert ist, wieso plötzlich die angekündigten Gruppen das Friedensgebet nicht gestalten durften. Das war uns nicht möglich, da wurde zum Beispiel dann das Mikrofon abgedreht, als jemand sprechen wollte von uns. So haben wir dann versucht, vor der Kirche, vor der Kirche draußen auf dem Vorplatz zu verkünden, weswegen die Gruppen abgesetzt worden waren, weswegen es eine andere Gestaltung gab, weswegen plötzlich nur sogenannte Montagsgebete stattfanden, aber keine Friedensgebete mehr.
Und das war natürlich erst recht dem Staat ein Dorn im Auge, dass sich so im Schatten der Kirche, direkt vor der Tür einer Kirche im Anschluss an eine gottesdienstliche Veranstaltung eine Öffentlichkeit etabliert, die nicht mehr zu kontrollieren war. Wo Leute plötzlich aufstanden nacheinander und redeten, was ihnen gefiel, und immer wieder …, wo politische Erklärungen verlesen wurden, wo Sachen verteilt wurden, Flugblätter, Aufrufe öffentlich gemacht wurden und wo Leute von Menschenrechtsgruppen redeten über die Hintergründe: die … warum der Staat so reagiert, was mögliche staatliche Absichten sind, was staatliches Handeln war – Repressionen, Festnahmen, Verhaftungen, sogenannte Zuführungen, also zeitweise Festnahmen. Oder auch wo Leute sprachen über Konflikte, die es gab zwischen diesen kirchlichen Gruppen und der Kirchenleitung, und auch über den kirchlichen Druck sprachen und den staatlichen Druck wieder auf diese kirchlichen Ebenen. Und all das sollte natürlich nicht in die Öffentlichkeit kommen. Deswegen gab es dann auch ziemlich schnell – im Oktober dann, Ende Oktober 88 – Festnahmen von morgens früh um 6.00 Uhr, wie das so üblich war in solchen Systemen. Es kam dann eine ganze Reihe Leute zu den Verhören und zur Einschüchterung. Und dann gab es diese Möglichkeit erst mal nicht mehr.
Rainer Müller, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de