Werdau, Winter 1950. Der Direktor der Alexander-von-Humboldt-Oberschule erteilt dem 17-jährigen Schüler Achim Beyer eine Aufgabe: „Du übernimmst zum 'Tag des jungen Widerstandskämpfers' am 23. Februar das Referat über die Geschwister Scholl!“ Zur Vorbereitung auf den Vortrag gibt der Rektor Achim Beyer eine gedruckte Ausgabe der Flugblätter aus dem Kreis der Münchener Studenten, die gegen Hitler gekämpft haben. Die Aufrufe der sieben Jahre zuvor hingerichteten Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl scheinen direkt an ihn gerichtet zu sein.
Vorher schon wird Achim Beyer von einem Mitschüler ein Reclam-Heft zugesteckt – dem Umschlag nach ein Band über die Revolutionsliteratur von 1848. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine im Westen produzierte Tarnschrift: Im falschen Einband befindet sich George Orwells Roman 1984, der in der DDR verboten ist. Die Parallelen sind jungen Menschen in der DDR der frühen 1950er Jahre nur allzu deutlich: Der Große Bruder in Orwells Buch trägt die Züge von Josef Stalin. Das beschriebene totalitäre System erinnert stark an die aktuellen Zustände in der DDR.
Schon längere Zeit diskutieren die Schüler intensiv über die Situation in der soeben gegründeten Republik. Viele lehnen sich empört gegen die neuerliche Errichtung einer Diktatur auf. Eine offene Diskussion scheint aber aussichtslos und gefährlich. So beschließen sie, nach dem Vorbild der Münchner Studentengruppe Weiße Rose heimlich Flugblätter zu verteilen.
Die ersten Flugblätter werden ganz einfach mit einem Handdruckkasten hergestellt. In den Gerichtsakten und den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit ist diese Herstellung minutiös geschildert. Die Originale sind nicht erhalten, wohl aber die Texte: „Wir sehnen uns nach Frieden, nach der Einheit Deutschlands in Freiheit – Weg mit den Volksverrätern, wählt mit NEIN!“
Achim Beyer ist das Risiko klar, das er mit Aktionen wie dieser eingeht. Als Strafe kann ein Todesurteil verhängt werden. Trotzdem macht er mit seinen Freundinnen und Freunden weiter. Als Liebespärchen getarnt, verteilen die Jugendlichen in Zweiergruppen nachts ihre Flugblätter und schreiben Parolen an Häuserwände.
In der Nacht zum 19. Mai 1951 werden zwei Gruppenmitglieder auf frischer Tat beim Verteilen von Flugblättern ertappt. Am nächsten Morgen verbreitet sich die Nachricht in der Schule. Für Achim Beyer beginnt eine abenteuerliche Flucht, die schließlich mit seiner Verhaftung endet. Am Tag seines 19. Geburtstags wird er zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren verurteilt.
Biografische Angaben zu Achim Beyer finden sie im Personenlexikon.
Zitierempfehlung: „Achim Beyer“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Juli 2022, www.jugendopposition.de/145502
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„Inzwischen war ich in der Nähe von Triptis. Da gibt es eine Autobahnraststätte. So aus der Literatur der Nazizeit: Wie macht man das? Möglichst unter viele Leute! Da bin ich in die Autobahnraststätte rein, hab mir dort noch ein Frühstück bestellt, und sitze so da. Plötzlich geht eine Tür auf, kommt ein Volkspolizist in nicht ganz vollständiger Uniform rein. Da fehlt die Mütze und die Jacke. Er guckt, kommt auf mich zu: ,Hier ist er ja, hier ist er ja, den ich suche.' Wörtlich! Also, mir rutscht das Herz in die Hose. Da kommt die Bedienung, wimmelt den ab. Ich roch bloß – der war besoffen. Und dann lallte der: ,Ich bin Regisseur, ich dreh 'nen Film, der Mann im Mond, und du machst den Hauptdarsteller.' Unmöglich eigentlich. Nicht zu glauben, dass so etwas passieren kann. Ich hab mich natürlich schnellstens verabschiedet.
Von dort ist es nicht weit nach Neustadt an der Orla. Ich habe mir gedacht: von Neustadt bis Saalfeld, vielleicht kann man da mit dem Zug fahren. Bin an den Bahnhof, da war ein Fußballklub. Hab mir gleich eine Fahrkarte gekauft und bin da zwischen den Zügen. Und dann in Saalfeld: Bahnsperren, bewacht. Polizisten mit Hunden und allem. Ob die nach mir gesucht haben, weiß ich nicht. Es war ja Sperrgebiet. Ich bin mir keineswegs sicher, dass die nach mir gesucht haben, könnte aber sein. Ich mitten zwischen die Typen, mitgegrölt. Die guckten mich an, ich schrie das, was die schrien. Was machen wir dann? Inzwischen Sonntagnachmittag. Ich geh ein bisschen durch Saalfeld und ins Kino. Ich hab mir gedacht: Da kannst du auf der hinteren Bank schlafen. Da zeigen die einen Film über Widerstand in der Nazizeit! Und wie solche Widerstandskämpfer herausgeschmuggelt werden, also deren Flucht.“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur