Das Ende der Staatssicherheit
In vielen Städten der DDR ziehen die Demonstrierenden im Oktober und November 1989 auch an Gebäuden des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) vorbei. Sie wollen die Arbeit des MfS stoppen und damit die Überwachung weiter Teile der Bevölkerung und die staatlichen Repressionsmaßnahmen gegen politisch Andersdenkende beenden. Immer mehr Menschen spüren die v. a. durch Ausreisewelle und Massendemonstrationen getriebene Verunsicherung, die das SED-Regime ausstrahlt. Ende der 1980er Jahre erweckt auch das Ministerium für Staatssicherheit, das „Schild und Schwert der Partei“, zunehmend den Eindruck einer führungs – und orientierungslosen Organisation. Verstärkt wird dieser Eindruck durch einen Auftritt des zuständigen Ministers Erich Mielke:
Am 13. November 1989, vier Tage nach dem Mauerfall und fünf Tage nach dem Rücktritt des gesamten Politbüros, tagt die DDR-Volkskammer. Mit Hans Modrow wird ein neuer Regierungschef gewählt. Von der Sitzung soll ein Zeichen des Aufbruchs und der Neuordnung ausgehen, die noch amtierenden Regierungsmitglieder müssen sich erklären. Auch Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, muss sich vor der Volkskammer verantworten. Dieser weist eine Mitschuld an der Staatskrise von sich. Da er die Anwesenden wie gewohnt mit „Genossen“ anspricht, verweist ein Abgeordneter darauf, dass in der Volkskammer nicht nur SED-Parteigenossen vertreten sind. Mielke spielt diese Anmerkung als „formale Frage“ herunter und ergänzt: „Ich liebe - Ich liebe doch alle - alle Menschen - Na ich liebe doch - Ich setzte mich doch dafür ein!“ Der noch amtierende Minister des Repressionsapparates sieht sich daraufhin dem Gelächter der Abgeordneten ausgesetzt. Der Auftritt bietet der SED-Führung zugleich einen guten Anlass, der Staatssicherheit die Verantwortung für die Misere zuzuschieben, obwohl diese als „Schild und Schwert der Partei“ im Auftrag der SED gehandelt hatte. Durch eine Namensumbenennung will man sich von den Altlasten des Geheimdienstes abgrenzen. Die Regierung Modrow verkündet am 17. November 1989 die Umbenennung des Ministeriums für Staatsicherheit in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS). Bereits am 6. November 1989 hatte Stasi-Chef Mielke seine Mitarbeiter in den Kreisen der DDR angewiesen, deren Aktenbestand zu reduzieren bzw. auszulagern. Damit sollen nicht nur Beweise für die Verbrechen der Staatssicherheit und belastende Informationen über Inoffizielle Mitarbeiter vernichtet, sondern auch das gewaltige Ausmaß der Überwachung vertuscht werden. Belastende Unterlagen werden fortan direkt mit dem Reißwolf vernichtet, zermahlen, zu unlesbaren Papierklumpen vermischt, mit Lastwagen zu Papiermühlen gebracht oder zum Teil direkt auf den Höfen der Objekte der Staatssicherheit verbrannt.
Mit dem Mut der Bürgerinnen und Bürger wächst der Druck, den sie auf das SED-Regime ausüben. In vielen Orten der DDR stellen sie nun auch für den Stasi-Apparat unbequeme Fragen. In Kavelstorf, im Bezirk Rostock, fassen sie sich ein Herz und fragen, warum eine unscheinbare Lagerhalle streng bewacht wird und dort regelmäßig nächtliche Großtransporte abgewickelt werden. Offiziell werden dort Waschmaschinen gelagert. Die Betreiberin der Lagerhalle, die Internationale Messtechnik Import-Export GmbH (IMES), lädt am 2. Dezember 1989 zu einem Bürgergespräch ein. Allein das scheint eine Sensation. Folglich strömen dann auch ca. 300 Menschen auf das abgeschirmte Gelände. Der Generaldirektor der IMES gibt zu, dass auf dem Gelände Waffen und Munition gelagert werden und öffnet den Bürgerinnen und Bürgern die Tore. Diese entdecken Unmengen von Waffen, die die IMES im Auftrag für das MfS in alle Welt, in Krisen- und Kriegsgebiete lieferte. Die Firma IMES war Teil der Kommerziellen Koordinierung (KoKo), einer Spezialabteilung von Staatssicherheit und SED, die durch ein Netz von Unternehmen und Wirtschaftskontakten Devisen für die DDR-Wirtschaft beschaffen sollte. Nur einen Tag nach der Offenlegung des IMES-Lagers in Kavelstorf geraten Vorgänge ins Rollen, die von vielen heute als „Bombe“ bezeichnet werden. Die illegalen Geschäfte der Staatssicherheit geraten nun in den Fokus der öffentlichen Diskussion. Am 3. Dezember 1989 setzt sich der Leiter der KoKo Alexander Schalck-Golodkowski nach West-Berlin ab. Immer häufiger werden Fälle bekannt, in denen leitende Funktionäre versuchen, Vermögenswerte illegal ins Ausland zu retten. Am 4. Dezember 1989 wird beispielsweise der Stellvertreter Schalck-Golodkowskis beim Verlassen des Hauses der Elektroindustrie in Berlin durch Oppositionelle gestellt, als er versucht, sich mit mehreren 100.000 Mark abzusetzen. Die Empörung in der Bevölkerung ist groß.
Tausende Erfurter legen als erste die Stasi-Behörde lahm
„Das Maß ist voll“, beschreibt Matthias Büchner, einer der Erfurter Sprecher des Neuen Forums, die Stimmung am Abend des 3. Dezember 1989: „Schalck-Golodkowski ist verschwunden, wichtige Finanz- und Sachwerte werden ins Ausland gebracht, Akten werden vernichtet, überall rauchen die Schornsteine“ Er ist Mitglied des Landessprecherrats des Neuen Forums, der am 3. Dezember 1989 in Grünheide einen Aufruf zur Bildung von Bürgerkomitees zur Kontrolle des Staatsapparates verfasste. Diesen gab er sofort an seine Freunde in Erfurt weiter.
Kerstin Schön, Ärztin und Mitglied der Erfurter Gruppe Frauen für Veränderung, ruft in den frühen Morgenstunden des 4. Dezember 1989 ihre Mitstreiterin Almuth Falcke an. Angesichts des dicken Rauchs, der aus den Schornsteinen der Stasiverwaltung quillt, beschließen die beiden zu handeln. Mit anderen Frauen, darunter auch Gabriele Stötzer (damals Kachold), mobilisieren sie Freunde und Bekannte. Mit ihrem Auto versperren Almuth Falcke und ihr Mann, Propst Heino Falcke, die Zufahrt zum Gebäude der Stasi-Bezirksverwaltung Erfurt, bis ein Müllfahrer sie ablöst. Andere Frauen fahren zum Rat der Stadt, zur Staatsanwaltschaft und zum Bürgermeister. Sie wollen Unterstützung, um in das Stasi-Gebäude zu gelangen. Tausende Erfurter folgen dem Aufruf, das Gebäude zu umstellen und die Ausgänge zu bewachen. Mehrere stürmen das Gelände, unter ihnen die Frauen für Veränderung. Sie versiegeln die Räume und schaffen es nicht nur, die Vernichtung der Akten zu stoppen – sie legen die gesamte Bezirksverwaltung lahm. Am Abend wird das Bürgerkomitee zur Auflösung des MfS gegründet. Andere Städte folgen diesem Beispiel. Rückblickend ist damit der Prozess der gewaltfreien Auflösung des einstmals gefürchteten Geheimdienstes eingeleitet.
Am Nachmittag des 4. Dezembers führt auch die Leipziger Montagsdemonstration wieder am „Runde Ecke“ genannten Gebäude der Leipziger Stasizentrale vorbei. Schon in den Wochen zuvor fordern die Bürgerinnen und Bürger mit Sprechchören die Auflösung der Stasi sowie die Sicherung der Aktenbestände. Diesmal besetzen einige von ihnen das Gebäude und gründen tags darauf ein Bürgerkomitee. Mit dabei der 23-jährige Tobias Hollitzer und der 22-jährige Johannes Beleites.
In der brandenburgischen Kleinstadt Angermünde fordert eine Gruppe um den Pfarrer Justus Werdin bereits am 3. Dezember 1989 die Polizei auf, der Aktenvernichtung Einhalt zu gebieten. An diesem Tag demonstrieren tausende DDR-Bürger mit Kerzen in der Hand und versammeln sich zu einer Menschenkette für eine demokratische Erneuerung der DDR. Vor der Kreisdienststelle der Staatsicherheit werden sie hingehalten. Ein Archiv gäbe es nicht, behaupten die Stasileute. „Die spielen auf Zeitgewinn und Zermürbung“, berichtet Werdin: „Draußen steht eine Menschentraube mit uckermärkischer Geduld. … Und natürlich Kerzen. … Jeder Raum wird extra aufgeschlossen. … Die Tür zur Waffenkammer … Panzerfäuste, Maschinenpistolen, Schlagstöcke … In der letzten von neun oder zehn Garagen finden wir noch einen Reißwolf und eine Mülltonne mit zerrissenen Akten. Beweisstücke!“ Wie in Erfurt und Leipzig übernehmen auch hier Bürgerkomitees in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft und der Polizei die Sicherung der Dienststellen. Diese Sicherheitspartner sind notwendig, aber auch unsicher: Oft sind die Siegel am nächsten Morgen gebrochen. Und noch sind die meisten Stasi-Leute bewaffnet. Dennoch ist es für viele der Teilnehmenden ein Moment der Befreiung. Sonja Rachow erinnert sich an den Morgen nach der Besetzung der Kreisdienststelle in Bad Doberan. Die Besetzung gehöre zu „den Sternstunden meines Lebens: Die Stasis kamen ja treudoof zur Arbeit und ich habe ihnen Ausweis und Pistole weggenommen und sie entlassen. War das schön!“
Der 4. Dezember 1989 bedeutet in vielen kleineren Städten der DDR das Aus für die Arbeit der Stasi. In Greifswald, Templin, Jena, Weißwasser, Wernigerode, Stendal und anderen Orten werden die Kreisämter besetzt, Räume versiegelt oder Wachen aufgestellt, um die weitere Aktenvernichtung zu verhindern.
Das Aus für die Stasi – nur nicht in Berlin
Die Erkenntnisse, die die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler bei den Besetzungen sammeln können, bestätigen den Verdacht der totalen Überwachung. Auf der ersten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 7. Dezember 1989 beschließen die Teilnehmenden die Auflösung der Staatssicherheit (MfS/AfNS). Die Vernichtung der Akten sowie elektronischer Datenträger wird aber, auch in der Zentrale in Ost-Berlin, weiterhin fortgesetzt. Die Regierung Modrow ersetzt am 14. Dezember 1989 das AfNS durch zwei neue Geheimdienste: einen Auslandsnachrichtendienst und einen Verfassungsschutz. Dieser soll vor allem den Rechtsextremismus bekämpfen, dessen Bedrohung jahrelang durch das SED-Regime vernachlässigt wurde und dessen Anhänger nun die neuen Möglichkeiten der offenen Grenzen nutzten. SED und Staatssicherheit instrumentalisieren dieses Problem, um mit der Bürgerrechtsbewegung auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen und den Inlandsgeheimdienst zu retten. Als am 28. Dezember am sowjetischen Ehrenmahl im Treptower Park nationalistische Schmierereien entdeckt werden, fordert SED-Parteichef und Ministerpräsident Modrow eine antifaschistische Einheitsfront. Am 3. Januar versammeln sich bis zu 250.000 Menschen und fordern unter anderem die Einführung eines Verfassungsschutzes. Mittlerweile wird aber im ganzen Land gegen die Einführung eines Geheimdienstes demonstriert und in vielen Betrieben der DDR wird gestreikt. Am 11. Januar demonstrieren bis zu 20.000 Menschen vor der Volkskammer gegen „eine neue Staatssicherheit“. Die DDR-Regierung gibt dem Druck aus der Bevölkerung und dem der Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler am Zentralen Runden Tisch nach und hebt am 13. Januar 1990 seinen Beschluss „vom 14.12.1989 über die Bildung eines Nachrichtendienstes der DDR und des Verfassungsschutzes der DDR“ wieder auf.
Nahezu unbehelligt weiterarbeiten können die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stasi-Zentrale in Ost-Berlin. Der Hauptsitz der Staatssicherheit wird erst am 15. Januar 1990 gestürmt. Das Neue Forum ruft für diesen Tag zu einer Demonstration vor dem gewaltigen Gebäudekomplex in der Normannenstraße im Stadtteil Lichtenberg auf. Tausende Bürger folgen dem Aufruf des Neuen Forums und vermauern – rein symbolisch – einen Zugang zum Gelände der Stasi. Innerhalb des Komplexes verhandeln seit diesem Tag bereits Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerkomitees aus den Bezirken über die Übergabe des Geländes. Am Abend öffnet sich dann das Haupttor des Komplexes und tausende Menschen strömen auf das Areal. Mit dem Sturm auf die Berliner Stasi-Zentrale verliert die SED endgültig ihre wichtigste innenpolitische Machtstütze und die Vernichtung der Beweise für Überwachung, Unterdrückung und Repression kommt weitgehend zum Erliegen. Auch die in Berlin friedlich verlaufende Besetzung reiht sich in den gewaltlosen Widerstand der Revolutionszeit ein und schafft die Basis für die Aufarbeitung der Rolle und Wirkung der Staatssicherheit.
Zitierempfehlung: „Das Ende der Staatssicherheit“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e. V., letzte Änderung Juni 2020, www.jugendopposition.de/145404
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