In Leipzig, der zweitgrößten Stadt der DDR, sind die Probleme des „real existierenden Sozialismus“ oft noch viel stärker zu spüren als etwa in der Hauptstadt Berlin. Ganze Stadtteile sind verfallen und stehen kurz vor dem Abriss. Das Umland ist geprägt von riesigen Tagebauen, Chemiebetrieben und Kohlekraftwerken. Der Zustand der Umwelt ist katastrophal. Die Pleiße, die größtenteils unterirdisch oder im betonierten Flussbett durch Leipzig fließt, ist schon seit Jahren tot.
Auf der anderen Seite hat Leipzig eine große Universität und gibt sich zwei Mal im Jahr als weltoffene Stadt. Dann nämlich, wenn Zehntausende – darunter viele ausländische Besucher – die Stadt zu den internationalen Frühjahrs- und Herbstmessen besuchen.
Es ist vor allem dieses Spannungsfeld, in dem sich in Leipzig schon früh eine oppositionelle Bewegung herausbildet, die durch ein Netz von persönlichen Beziehungen mit Oppositionsgruppen in der ganzen DDR verbunden ist.
Wie in manch anderen Teilen des Landes entwickelt sich die Friedensbewegung auch in Leipzig unter dem Dach der Kirche. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre findet hier eine immer stärkere Politisierung der Friedensgruppen statt, deren Aktionen offensiver werden.
Die Initiativgruppe Leben (IG Leben), 1987 durch den 22-jährigen Uwe Schwabe mitgegründet, und die Arbeitsgruppe Umweltschutz (AGU) organisieren am 5. Juni 1988 zum ersten Mal den Pleiße-Gedenk-Umzug – einen Trauermarsch für den zur Kloake verkommenen Fluss. An der Demonstration, die entlang des Flussverlaufs durch Leipzig führt, beteiligen sich etwa 200 junge Menschen, darunter auch Rainer Müller (Zeitzeuge). 1989 nehmen schon mehr als 500 Menschen teil. Aber nicht lange: Die Polizei zerschlägt den Marsch gewaltsam.
Die Vernetzung der Gruppen, ihre größer werdende Mitgliederzahl und ihre bessere Organisation haben immer stärkere Repressionen zur Folge. Die Staatsmacht übt Druck auf die Kirche aus, die daraufhin für einige Zeit den aktivsten Gruppen in Leipzig ihre Unterstützung verweigert. Anfang 1989 eskaliert die Situation: Die Gruppe Demokratische Initiative ruft zu einer Demonstration für die Demokratisierung des Landes auf. Der Termin: 15. Januar 1989, Jahrestag der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration in Berlin. 1988 sind hier 160 Oppositionelle verhaftet worden.
Nervöse Obrigkeit: Die Leipziger Opposition wächst stetig
Trotz einer ersten Verhaftungswelle im Vorfeld, in deren Verlauf auch Uwe Schwabe und Rainer Müller (Zeitzeugen) inhaftiert werden, versammeln sich am 15. Januar 1989 über 500 Menschen in der Leipziger Innenstadt. Sie fordern ihr verfassungsmäßiges Recht auf Meinungsfreiheit. Polizei und Stasi lösen die Demonstration gewaltsam auf, mehr als 50 Teilnehmer werden verhaftet. Noch am selben Tag werden in Leipzig erste Fürbittgottesdienste für die Festgenommenen abgehalten.
In den kommenden Tagen finden in Leipzig und anderen Städten der DDR Bittgottesdienste statt. Bevor sich diese Form des Protests ausbreitet, gibt die Staatsführung nach: Vier Tage später werden alle Inhaftierten entlassen. Vor allem deshalb, weil die Nachricht von den Verhaftungen bis zum gerade stattfindenden dritten KSZE-Folgetreffen in Wien gelangt.
Die Staatsmacht beobachtet die Leipziger Oppositionsszene mit großer Nervosität. Wie blank die Nerven bei der Staatsführung und den Sicherheitsorganen liegen, zeigt sich am 10. Juni 1989, als ein Straßenmusikfestival stattfinden soll. Die Veranstaltung hat keine politischen Ziele. Zahlreiche Musik- und Theatergruppen wollen einfach mehr Leben in die Stadt bringen und die Menschen unterhalten. Das Festival wird von jungen Leuten verschiedener Leipziger Gruppen organisiert, wie der IG Leben und der Demokratischen Initiative. Initiatoren sind unter anderem: Jochen Läßig, Uwe Schwabe, Gesine Oltmanns, Katrin Hattenhauer, Cornelia Fromme, Frank Sellentin und Andreas Ludwig.
Das Festival wird im Vorfeld verboten. Begründung: Die auftretenden Bürger müssten erst den Nachweis ihrer künstlerischen Qualifikation erbringen. Trotz des Verbots kommen zahlreiche junge Künstler in die Stadt. Sie musizieren, singen, führen kleine Theaterstücke auf. Was zunächst friedlich beginnt, endet im Fiasko: Verständnislos sehen die Leipziger Bürger zu, wie Polizisten und Stasi-Leute die Musiker durch die Innenstadt jagen, einkesseln und verhaften. Festgenommen werden die Leute schon allein deshalb, weil sie ein Instrument oder einen Fotoapparat bei sich haben. Viele Bürger solidarisieren sich daraufhin mit den jungen Leuten.
Der Staat, das wird vielen in diesen Tagen klar, fürchtet um die Kontrolle über „sein Volk“. (Uwe Schwabe berichte im Zeitzeugen-Interview über das Straßenmusikfestival, den Pleiße-Gedenk-Umzug und über Aktionen des Leipziger Widerstands, bei denen die Stasi mit harter Hand durchgreift.)
Zitierempfehlung: „Oppositionszentrum Leipzig“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung November 2022, www.jugendopposition.de/145316
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Wir haben gesagt: ´Lasst die Genossen demonstrieren, lasst die da ihre Feierstunde abhalten`. Das war ja jedes Jahr am 15. Januar, zum Todestag. ´Wir machen unsere eigene Demo`. Da haben wir Flugblätter gedruckt, 12.000 Stück. Das war eine wahnsinnige Leistung damals, denn es gab ja kein Papier, keine Druckmaschinen. Es gab aber Druckmaschinen in kirchlichen Einrichtungen, die wir genutzt haben, manchmal ohne Wissen des Pfarrers. Wir haben dann gesagt: ´Wir müssen mal was drucken, gib uns mal deine Druckmaschine`. Die Flugblätter haben sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verteilt. Am 11. Januar, in Hausbriefkästen, an Straßenbahn-Haltestellen. Das waren damals zwölf Leute.
Wir haben zu dieser Demonstration aufgerufen und gesagt: ´Es gibt keine Meinungs-, es gibt keine Presse-, keine Versammlungsfreiheit in der DDR`. Alles Sachen, die Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg damals gefordert hatten. Die DDR berief sich ja immer auf die. Sie sagten: ´Das sind unsere Vorbilder`. Na bitte, dann lasst das doch mal zu! Das Problem war aber, dass ein Inoffizieller Mitarbeiter bei dieser Aktion mit verteilt hat. Der hat am nächsten Tag ein Telegramm nach Berlin geschickt, in dem er alles berichtet und alle Namen genannt hat. Aber ich glaube, das war nicht der Anlass, richtig dagegen einzuschreiten. Vielmehr wurden zwei Leute auf frischer Tat von der Polizei ertappt. Die hat die Flugblätter gefunden. Dann ging die Maschinerie los. Wir sind fast alle einen Tag später verhaftet worden.
Was passiert am 15.1.89? Wir haben diesem Tag im Gefängnis entgegen gefiebert. Kommen da Leute, findet da irgendetwas statt? Wird es öffentlich gemacht, oder versauern wir jetzt hier? Passiert das, was sie uns angedroht haben? Fünf Jahre Haft, das war es, was über uns schwebte. Wir wussten natürlich: Es gibt eine Solidarität und Leute, die sich darum kümmern werden. Aber wir wussten nie, wie es ausgeht. Die Hilflosigkeit in diesem Gefängnis ..., man wusste nicht, wann man wieder herauskommt. Am 15.1. war früh eine Vernehmung. Der Vernehmer sagte: ´Hoffen Sie bloß, dass heute nichts passiert`. Wir haben es natürlich genau umgedreht gehofft. Wir haben gehofft, dass die Leute auf die Straße gehen.
Und die Demo fand wirklich statt, das war das Erstaunliche. 800 Leute haben sich zu einer politischen Demonstration getroffen. Es gehörte schon ein bisschen Mut dazu, dahin zu gehen und sich offiziell zu outen, zu sagen: ´Ich mach jetzt hier mit!`. Ein Freund von uns, Fred Kowasch, der 1989 ausgereist ist, hat eine Rede gehalten. Er stellte sich auf die Brüstung des Untergrundmessehauses und hielt eine Rede. Er forderte die Freilassung der Inhaftierten und eine politische Reform. Nach zehn Tagen Untersuchungshaft sind wir durch den großen nationalen und internationalen Druck wieder frei gekommen. Die Ermittlungsverfahren wurden am 29. Januar 1989 eingestellt.
Uwe Schwabe, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de