Jena, Herbst 1976. Am 18. November sprechen die Mitglieder der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte über die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Die Jugendlichen sind sich einig, dass man irgendetwas gegen diese staatliche Willkür tun muss. Wolf Biermann ist für viele von ihnen ein wichtiges Sprachrohr: Er singt und schreibt, was die Jugendlichen denken, fühlen und hören wollen. Insgesamt unterschreiben 58 junge Jenenser die Petition der Berliner Schriftsteller (Offener Brief), die gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns Protest erheben.
Am 17. November 1976 telefoniert die 22-jährige Doris Liebermann mit dem Schriftsteller Jürgen Fuchs und lässt sich von ihm den Text der Petition diktieren. Jürgen Fuchs wohnt zusammen mit Frau und Tochter bei Robert Havemann in Grünheide bei Berlin. Doris Liebermann tippt den Text auf ihrer Schreibmaschine ab und fertigt mehrere Durchschriften an. Das Kohlepapier, das für die Durchschriften nötig ist, wirft sie in den Papierkorb. Am nächsten Morgen wird sie verhaftet, denn Stasi-Leute finden das Kohlepapier. Es folgt ein 48 Stunden andauerndes Verhör.
Die Stasi will offenbar von ihr hören, dass Robert Havemann der „Kopf der Organisation“ ist. Der Haftbefehl gegen Doris Liebermann wird begründet mit „Beihilfe zu staatsfeindlichen Handlungen“. Trotzdem wird sie freigelassen, weil, wie sie heute vermutet, die Kirche sich für sie und andere Jenenser Theologiestudenten eingesetzt hatte. Nach ihrer Entlassung unterstützt sie andere Inhaftierte, unter ihnen auch ihren Freund, den Sozialdiakon Thomas Auerbach.
Im Frühsommer 1977 teilt ihr der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, der inoffizieller Mitarbeiter der Stasi ist, mit, dass Thomas Auerbach seiner Ausreise zugestimmt habe und dass sie als Angehörige ebenfalls ausreisen dürfe. Unter diesem Druck stimmt sie schließlich zu. Am 2. September 1977 werden Thomas Auerbach, Kerstin Graf, Wolfgang Hinkeldey, Marian Kirstein, Gerd Lehmann, Bernd Markowsky und Walfred Meier nach West-Berlin ausgewiesen. Am 17. Dezember 1977 folgen die Angehörigen, unter ihnen auch Doris Liebermann. Zusammen mit den anderen ausgebürgerten Jenensern versucht sie den Kontakt zu den alten Freunden aufrechtzuerhalten: Sie treffen sich in Polen und in der Tschechoslowakei. 1982 erhält sie jedoch auch in die CSSR Einreiseverbot.
Biografische Angaben zu Doris Liebermann finden sie im Personenlexikon.
Zitierempfehlung: „Doris Liebermann“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Februar 2023, www.jugendopposition.de/145515
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Ich bin in einem ganz kleinen Dorf in Thüringen geboren. Das ist ungefähr zehn Kilometer von der Grenze zu Bayern entfernt gewesen. Es war das erste Dorf außerhalb des Sperrgebiets. Das heißt eigentlich: Hinter dem Dorf endete die Welt für mich. Meine Eltern sind Bauern. Ich kann nicht direkt sagen, dass sie unpolitisch waren, aber Bauern sind in ihrer Haltung sehr konservativ, ist meine Erfahrung. Über die gehen die politischen Wellen hinweg, ohne dass sich viel ändert an ihrer Haltung.
Ich bin sehr ambivalent erzogen worden. Man machte alles mit, was in dem Staat DDR gebraucht wurde. Ich wurde zu den Jungen Pionieren angemeldet und bin da auch gerne hingegangen. Ich hatte auch gerne dieses blaue Halstuch um. Gleichzeitig habe ich die Christenlehre besucht. Am Anfang was das auch kein Problem für mich. Das kam erst als junger Mensch, als ich anfing, bewusst zu denken.
Frage: Welche Rolle spielte die Kirche für Sie, in Ihrer Prägung als Jugendliche?
Die spielte eine ganz große Rolle. Aber nicht als Kirche, sondern in Gestalt eines einzelnen Pfarrers, der nach dem Studium in Jena nicht in unser Dorf, sondern in das Nachbardorf kam. Er war voller Ideen und Pläne und belesen und eigentlich völlig fehl am Platz in diesem Dorf. Der hatte sehr viel Literatur, er gab uns Bücher von Max Frisch und von Dürrenmatt, so dass er auch mir eine ganz neue Welt eröffnete. Durch ihn kriegte ich erstmal ganz andere Kontakte, vor allem zur Jungen Gemeinde Zella-Mehlis, die damals schon wie ein staatsfeindliches Objekt behandelt wurde.
Dort lernte ich Leute kennen wie Matthias Büchner oder Christian Herrmann, die eine führende Rolle in der DDR-Opposition hatten, die schon als 17-jährige aus den Lehren geworfen worden sind. Das waren alles Erfahrungen für mich, die mich doch sehr zum Nachdenken brachten. Ich bin nach Jena gegangen und wollte eigentlich Slawistik studieren. Weil mich Sprachen immer interessierten. Ich hatte auch angefangen, sollte aber als Bauernkind sofort zur FDJ-Sekretärin ernannt werden. Das war der Punkt, an dem ich für mich entschieden habe, dass ich da nicht weiter kann. Ich sagte: entweder Kirche oder Staat.
Doris Liebermann, Zeitzeugin auf www.jugendopposition.de