Mit dem Heißluftballon gegen das himmelschreiende Unrecht
In der sowjetischen Zone und in Ost-Berlin sind gezielte oder willkürliche Festnahmen durch die Geheimdienste der Besatzungsmacht an der Tagesordnung. In der Regel erfahren die Familien nicht, wieso ihre Angehörigen plötzlich verschwunden sind. Sind sie verhaftet oder verurteilt worden? Wie lautet das Urteil? In welchem Gefängnis sind sie? In zahllosen Fällen ist völlig unklar, ob die Festgenommenen nach Russland transportiert wurden oder ob sie überhaupt noch am Leben sind.
1948 entschließen sich Rainer Hildebrandt und mehrere Vertreter aus Jugendverbänden im amerikanischen Sektor von Berlin, unter dem Namen Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) einen Suchdienst einzurichten. Sie nehmen alle Suchanfragen und Hinweise über den Verbleib von Verhafteten in eine Kartei auf, die schon bald 20.000 Namen enthält. 1952 sind es bereits 100.000. Die KgU registriert auch Namen von Spitzeln und Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die im Zusammenhang mit den Verhaftungen und Verschleppungen auftauchen. Teilweise werden diese Namen über den RIAS öffentlich bekannt gegeben.
Das Büro der KgU ist zunächst in der Wohnung von Rainer Hildebrandt eingerichtet. Die Aktivitäten finden ein positives Echo, vor allem bei den Bewohnern der Sowjetischen Besatzungszone. Die zunächst ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter sind meist ehemalige Häftlinge. Die Bedingungen sind dürftig: Sie arbeiten mit einer einzigen Schreibmaschine, und ihre Kartei ist handgeschrieben. Rainer Hildebrandt bittet deshalb die westlichen Besatzungsmächte um Unterstützung. Aus amerikanischen Geheimdienstquellen erhält die KgU fortan regelmäßig einen größeren Geldbetrag. Im Gegenzug liefert sie Informationen aus der DDR.
1949 beginnt die KgU ihre F-Kampagne. Der Buchstabe F steht für Freiheit. Er soll symbolisch überall in der sowjetischen Zone an Häuserwände geschrieben oder auf Flugblättern verbreitet werden. Ein weiteres Mittel des Widerstands sind sogenannte administrative Störungen. Zum Beispiel werden gefälschte amtliche Verfügungen, Bestellungen industrieller Güter oder Einladungen verschickt. Die KgU verbreitet falsche Lebensmittelkarten und Briefmarken mit propagandistischen Aufdrucken. Außerdem veröffentlicht sie Propagandamaterial. Die im KgU-Umfeld produzierte satirische Zeitschrift Tarantel ergeht sich in beißendem Hohn über die Verhältnisse im Osten. Die Materialien werden in West-Berlin verteilt – teils über die Sektorengrenze geschmuggelt und teils mit Heißluftballons in die DDR befördert.
Unter dem Eindruck des Kalten Krieges greifen einzelne KgU-Mitarbeiter auch zu militanten Formen des Widerstands. 1951 verübt ein V-Mann der KgU einen Brandanschlag auf eine hölzerne Autobahnbrücke. Der in Schauprozessen erhobene Vorwurf, die KgU-Agenten hätten auch die Sprengung einer Eisenbahnbrücke auf der Strecke Berlin – Moskau sowie die Vergiftung von Trinkwasser geplant, erweist sich nach heutigem Kenntnisstand als Propagandagespinst. Über die tatsächlichen militanten Aktionen kommt es innerhalb der KgU zu schweren Auseinandersetzungen. Rainer Hildebrandt will am gewaltlosen Widerstand festhalten und verlässt die Widerstandsgruppe 1952. Dem MfS gelingt es, den KgU-Apparat systematisch zu unterwandern. Infolgedessen werden mehrere hundert Beschuldigte verhaftet und verurteilt, darunter einige zum Tode.
Die SED schlachtet Aktionen der KgU propagandistisch aus und erfindet zusätzlich geplante Terroraktionen. Auch wenn nicht alles geglaubt wird, was die SED verbreitet, schwindet doch die Unterstützung in der westlichen Öffentlichkeit. Der Vorwurf wird laut, dass junge Menschen leichtfertig zu abenteuerlichen Aktionen verleitet würden. 1959 stellt die KgU ihre Arbeit endgültig ein.
Zitierempfehlung: „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145427
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„Unsere Gruppe hatte sich etwa im Sommer 1950 gebildet, und die erste Aktion waren Flugblätter gegen die Volkskammerwahlen. Wir haben später noch paar Mal andere Flugblätter hergestellt. Aber unmittelbar nach dieser Aktion, die wir selber als positiv eingeschätzt haben, gab es viele Diskussionen in der Kleinstadt Werdau. Ich hörte zu, wie die sich unterhielten: ,Es sind Flugblätter verteilt worden.' Man tat so, als ob man das das erste Mal hörte.
Jedenfalls haben wir gesagt: Sie auf so primitive Art und Weise mit so einem Handdruckkasten Buchstabe für Buchstabe zusammen zu setzen, das geht auf Dauer nicht. Wir wollen doch weiter machen. Dann hatten wir eine Gruppenleitersitzung, so der harte Kern. Wir kamen auf die Idee: West-Berlin, da gibt es vielleicht Möglichkeiten der Unterstützung. Wir wollten kein Geld haben, sondern materielle Unterstützung, vielleicht in Form von fertigen Flugblättern, oder entsprechende technische Hilfe. Das war das eine. Ich hatte noch etwas anderes eingebracht in die Diskussion: Es wäre vielleicht ganz gut, wenn in West-Berlin jemand wüsste, dass es in Werdau eine Widerstandsgruppe gibt. Man kann ja nicht wissen, ob das nicht notwendig ist. So eine Art Rückversicherung für den Fall, dass uns etwas passiert. Denn unseren Eltern konnten wir uns nicht anvertrauen.
Unsere Eltern wussten wirklich nichts davon. Ich bin nachts aus dem Fenster gestiegen, nachdem ich ins Bett gegangen war, hab meine Flugblätter verteilt aus meinem Bündel, das mir zugeteilt worden war. Anschließend bin ich wieder durch das Fenster eingestiegen. Am nächsten Tag kam mein Vater am Nachmittag oder am Abend von der Arbeit zurück und sagte: ,Es sind wieder Flugblätter verteilt worden, 'ne tolle Sache. Mach bloß du nicht so was, viel zu gefährlich.' Ich hab gesagt: ,Nee, ich nicht. Du weißt doch, ich bin FDJ-Funktionär!'. So in dem Stil.“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur