Abschrift
Der 15. Januar war eigentlich ja nur der Schlusspunkt, auch der sehr öffentlichkeitswirksame Schlusspunkt einer Entwicklung, die am 4. Dezember vormittags in Erfurt begonnen hatte. Da ist nämlich die erste Bezirkszentrale des MfS von einer Handvoll Menschen, fünf Frauen übrigens, besetzt worden. Nachmittags war dann Dresden dran, und dann ging das immer so weiter. Das waren wirklich ziemlich riskante Unternehmungen. Wer hätte garantieren können, dass die bewaffneten Offiziere sich nicht mit Waffengewalt gegen die Eindringlinge zur Wehr setzen? Sie haben es nicht getan, weniger, denke ich, aus Menschenfreundlichkeit, vielmehr weil sie ihre eigene Haut retten wollten. Am 15. Januar brauchte man nicht mehr viel Mut dafür. Aber es war trotzdem ein wichtiger Tag, weil die Bilder von der Erstürmung der Stasi-Zentrale um die Welt gingen, vor allen Dingen durch die DDR gingen. Und wenn man sieht, dass da Möbel, Papier und Akten aus dem Fenster fliegen – vor so einem Apparat habe die Leute keine Angst mehr. Das war das Wichtige am 15. Januar.
Es bildeten sich dann Bürgerkomitees in den einzelnen Stasi-Dienststellen, auch in den Bezirksstädten und überall, die zunächst einmal nur darauf achten wollten, dass nicht noch mehr Material vernichtet und zur Seite gebracht wird. Und dann ging die Diskussion los. Was soll denn mit den Akten geschehen? Und es gab auch innerhalb der früheren Opposition Leute, die der Meinung waren, es wäre vielleicht besser, wir würden dieses ganze Material kontrolliert vernichten. Das Argument war: Das sind schließlich Produkte von Verbrechern, diese Akten, wenn wir die aufheben, dann werden sie womöglich noch weiter Schaden anrichten. Aber das war eine Minderheitenmeinung. Die meisten waren dezidiert dafür, die Akten nicht nur aufzubewahren, sondern auch zugänglich zu machen. Und sie hatten im Großen und Ganzen drei Argumente. Das erste war: Die Opfer brauchen die Akten, damit sie ihr Schicksal rekonstruieren können, damit sie sich rehabilitieren können. Zweitens braucht man die Akten, wenn man die Frage nach Schuld und nach Verantwortung beantworten will. Und drittens brauchen wir die Akten, um zu erforschen, wie dieses System funktioniert hat. Das hat dann den Ausschlag gegeben.
Es war ja dann noch ein längerer Weg, bis die Akten tatsächlich zur Verfügung gestellt wurden, das mussten wir ja noch erkämpfen dann im Jahr 1990. Aber mit diesen drei Argumenten war sehr frühzeitig skizziert, wofür wir bis heute die Akten tatsächlich nutzen. Wir haben ja in der Volkskammer ein erstes Stasi-Unterlagen-Gesetz verabschiedet – nahezu einstimmig, es gab, glaube ich, nur zwei Enthaltungen –, das die Aufbewahrung und den Zugang zu den Akten sichern sollte. Das ist vielleicht ein ganz wichtiges historisches Detail, weil man heutzutage manchmal den Eindruck gewinnt, dass die Leute denken, der Westen hätte die Akten geöffnet, vielleicht um den Osten zu demütigen oder so etwas. Das war aber überhaupt nicht so. Der Osten, jedenfalls die gewählten Abgeordneten wollten das so. Und wir mussten dann später noch kräftig dafür streiten, dass die Akten auch über den 3. Oktober 1990 hinaus zugänglich blieben. Denn vorgesehen war eigentlich laut Einigungsvertrag, dass die dem Bundesarchiv unterstellt werden, eingeschlossen einer Sperrfrist von mehreren Jahrzehnten.
Marianne Birthler auf www.jugendopposition.de
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft