Abschrift
Dass Leute einen Ausreiseantrag stellten, war wie so ein Grundton in unserem Leben, so ein Ostinato. Und das war jedes Mal eine traurige Angelegenheit. Wolf Biermann hat einmal in einem Lied die Zeile verwendet: „In den Westen gestorben“. Das soll ja ausdrücken, dass es ein großer Verlust ist, wenn jemand in den Westen geht, und so haben wir das auch empfunden. Jeder, der im Widerstand war, der protestiert hat und der unzufrieden war, bereicherte uns ja, machte uns stärker. Und wenn Menschen weggingen, fühlten wir uns geschwächt, ganz abgesehen von dem oft auch persönlichen Abschiedsschmerz. Wir wussten ja alle nicht, wann wir uns je wiedersehen würden. Wir haben es als eine Schwächung empfunden, und manchmal habe ich es auch als Verlassenwerden interpretiert. Ich glaub, ich habs oft auch übel genommen, wenn Leute in den Westen gegangen sind. Das war widersprüchlich. Einerseits haben wir uns natürlich für Freizügigkeit eingesetzt. Wir wollten, dass alle, die das wünschen, das Recht haben, in den Westen zu gehen. Aber die, die das Recht für sich Anspruch genommen haben, die hatten es dann gar nicht so leicht in Kreisen der Opposition, weil die Menschen ja irgendwie mit ihrem Schmerz umgehen mussten und der Schmerz sich gegen die Antragsteller, so hießen die immer, gewendet hat. Das war eine, glaube ich, für beide Seiten belastende Situation.
Und ich denke auch, dass wir vielen, die damals ausgereist sind, Unrecht getan haben. Um damit fertig zu werden, haben wir so einen Mythos des Dableibens entwickelt, um uns damit ein bisschen besser zu fühlen. Wir fanden, dass die, die dableiben, stärker sind, sich durchsetzen, nicht ausweichen vor den Konflikten. Das war, wenn ich das jetzt betrachte, doch eine sehr verwickelte Situation. Und die Art und Weise, wie wir versucht haben, mit diesem Trennungsschmerz umzugehen, die lohnt, dass man es sich noch einmal anguckt und vielleicht auch miteinander noch einmal darüber spricht.
Etwas später dann, als die Mauer gefallen war, kamen ja manche sofort zurück. Die waren heilfroh, dass sie endlich wieder dorthin konnten, wo sie gelebt hatten, wollten mit anpacken, auch sich politisch engagieren, tun, was zu tun war, und kriegten dann häufig die kalte Schulter gezeigt so nach dem Motto: Damals hat du uns verlassen, dann brauchst du jetzt auch nicht anzukommen. Traurige Geschichten eigentlich.
Marianne Birthler auf www.jugendopposition.de
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft