Abschrift
Moderatorin:
„Man neigt ja leicht dazu, Ereignisse wie jetzt die Kommunalwahl und die Aktivitäten, die sich darum entfaltet haben, an ihrem kurzfristigen Erfolg zu messen. Thorsten Schilling und Thomas Krüger von der Kirche von Unten nahmen sie doch zum Anlass, um sich Gedanken darüber zu machen, was man gemeinhin den historischen Kontext nennt.“
Schilling:
„Ich habe selber an Auszählungen teilgenommen. Meiner Meinung nach hat sich wirklich etwas Neues ergeben. Bis jetzt waren Wahlen immer dazu da, eine Kundgebung abzugeben für den allgemeinen Konsens in der Gesellschaft, eine Kundgebung der allgemeinen Zustimmung der Bevölkerung zur Politik von Partei und Regierung. Jetzt ist es so, dass Tausende von Menschen bei der Auszählung dabei sind und der Macht sozusagen auf die Finger schauen. Und diese Menschen haben feststellen müssen, dass die Ergebnisse, die sie festgestellt haben bei den öffentlichen Auszählungen, nicht übereinstimmen mit dem, was offiziell einen Tag später und schon am Abend bekannt gegeben worden ist. Es hat sich also ein Misstrauen gezeigt sehr vieler Gruppen und Menschen gegenüber diesem ganzen Wahlvorgang und den verkündeten Ergebnissen, und es hat sich gezeigt, dass dieses Misstrauen begründet war.“
Krüger:
„Es fragt sich natürlich, wie die Abgeordneten mit diesen Verunsicherungen, die durch diesen Vorwurf des Wahlbetrugs entstanden sind, umgehen. Oder andererseits, wie die 7 bis 10 Prozent Gegenstimmen, die nun ermittelt worden sind von unseren Leuten, wie die repräsentiert werden in der DDR. Da bleibt der Regierung im Prinzip bloß eine Alternative zwischen einer Öffnung und einem Zugehen auf diesen Fakt übrig oder andererseits ein Verschweigen.“
Schilling:
„Das stimmt. Ich glaube auch, das wird, denke ich, im nächsten Jahr noch der Fall sein, dass versucht wird, diese ganzen Erfahrungen, diesen Widerspruch von Menschen zu ignorieren. Und wenn man Politik nimmt als die Anerkennung verschiedener Meinungen, verschiedener Interessengruppen und auch Konflikte und Widersprüche und eben versucht, diese Widersprüche im Prinzip auszutragen und zu harmonisieren, dann ist im Moment in der DDR die Politik, die gemacht wird, offiziell eine Form des Verschweigens von Politik.“
Krüger:
„Ja klar, also Politik in dem Sinne findet nicht statt, stattdessen Kampagnen. Man braucht sich das bloß anzugucken: 1. Mai, 7. Mai, 15. Mai – also vom Arbeitertag bis zum Pfingsttreffen hat alle 14 Tage oder alle Woche, kann man ja fast sagen, eine Kampagne stattgefunden, statt dass Meinungsverschiedenheiten ausgetragen worden sind.“
Schilling:
„Das ist eine Art Polittheater, das hier stattfindet.“
Krüger:
„Es wird im Prinzip inszeniert, dass es keine Probleme gibt. Die Bürger sollen sich nicht für Politik interessieren, sie sollen unterhalten werden, also entpolitisiert werden.“
Schilling:
„Ja, trotzdem hat das aber einen politischen Zweck. Also, es geht zum einen natürlich um Unterhaltung, um Beschäftigung der Massen – Brot und Spiele. Und auf der anderen Seite geht es auch darum, den Eindruck zu suggerieren, dass die Macht nach wie vor ungebrochen ist und dass die Macht in sich geschlossen ist und unbeirrbar ihren Weg weiterschreitet. Der Einzelne soll im Prinzip nur die Möglichkeit haben, sich da zu integrieren.“
Krüger:
„Das stellt sich natürlich außenpolitisch ganz anders dar. Außenpolitisch liberalisiert sich die DDR seit Anfang der 1970er Jahre. Und das war ja nicht immer so. Zu Ulbrichts Zeiten gab es den Klassenfeind, und da brauchte man noch nicht auf verschiedene Leute einzugehen. Aber mit Anfang der 1970er Jahre hat sich das geändert. Da ist ein Bedürfnis entstanden, alles, was sich positiv zur DDR äußert, zu vereinnahmen. Sozusagen alles zwischen Strauß und Gaus, was sich positiv äußert, kann die DDR als Legitimation gebrauchen.“
Schilling:
„Dem steht aber innenpolitisch eine Kolonialisierung gegenüber. Also, man kann im Prinzip einen Widerspruch konstatieren zwischen außenpolitischer Liberalisierung und innenpolitischer Kolonialisierung. Und meiner Meinung nach ist in diesem Widerspruch der Bürger gefordert. Er kann in diesen Widerspruch einhaken, indem er nämlich den außenpolitisch erreichten Status quo der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen auch für sich als Bürger gegenüber dem Staat im innenpolitischen Diskurs anfordert.“
Krüger:
Klar, und da liegt im Prinzip die Chance für den einzelnen Bürger: Indem er praktisch die Apparate beschäftigt, zerstreut er sie, beginnt er praktisch, Informationen einzustreuen, die – da sie aus verschiedenen Ecken kommen – die Apparate gar nicht mehr verarbeiten können.“
Schilling:
„Es geht darum, sein Anliegen vorzubringen, mutig und fantasievoll, und im Prinzip sich nicht mehr beirren zu lassen von dem Alleinvertretungsanspruch, den Staat und Regierung hier erheben. In dem Moment, wo das so vielfältig wie möglich geschieht, ist das natürlich für den Apparat, der nach wie vor auf diesem Alleinvertretungsanspruch beharrt, verwirrend.“
Quelle: Radio Glasnost, Mai 1989