Demonstrationen am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin
40. Jahrestag der DDR: Das offizielle Jubiläumsfest am 7. Oktober 1989 verläuft unter starken Sicherheitsvorkehrungen. Wegen der wachsenden Kritik an der Partei- und Staatsführung ist man bei Stasi und Volkspolizei beunruhigt. Die Proteste wegen der Wahlmanipulation vom 7. Mai 1989, die Montagsdemos im Anschluss an die Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig und die Ausreisewelle in die Bundesrepublik zeugen vom wachsenden Unmut in der Bevölkerung. Der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit, Erich Mielke, ordnet mit Blick auf die Feierlichkeiten zum Republikgeburtstag an: „Feindliche Aktivitäten sind mit allen Mitteln entschlossen zu unterbinden.“
Tausende Berliner sind zur Feier auf den Alexanderplatz gekommen, doch so sehr sich der DJ auch bemüht: die Tanzfläche inmitten der Buden bleibt leer. Die Stimmung ist gespannt. Überall stehen kleine Gruppen von auffällig unauffälligen jungen Männern in Zivil, die alle Aktivitäten auf dem Platz im Auge behalten. Die Sicherheitskräfte befürchten größere Demonstrationen. Seit der Wahlmanipulation bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 protestieren regelmäßig am Siebten jeden Monats junge Oppositionelle auf dem Ostberliner Alexanderplatz. Das Flugblatt zum Demoaufruf wird von Evelyn Zupke (27) und Frank Pfeifer (26) hergestellt und verteilt.
Am Rande des Platzes entsteht am frühen Nachmittag plötzlich Tumult: Zivile Einsatzkräfte zerren einen Jugendlichen mit Polizeigriff aus der Menge. Es ertönen Buhrufe und Pfiffe, eine Gruppe, die sich nahe der Weltzeituhr zusammenfindet, skandiert: „Freiheit! Freiheit!“. Dutzende Hände werden erhoben und formen sich zum Siegeszeichen. Medienleute aus dem Westen sind auch auf dem Alexanderplatz. Sie haben mit Zwischenfällen gerechnet. Der ARD-Korrespondent Horst Hano zögert nicht lange und lässt seinen Kameramann die Szene filmen. Von nun an begleitet das ARD-Team diesen denkwürdigen Abend. Um die kleine Gruppe an der Weltzeituhr scharen sich in kurzer Zeit immer mehr Besucher.
40. Geburtstag: Die einen dinieren, die anderen demonstrieren
Die Überwachungskameras der Volkspolizei, die an den Häusern rings um den Alexanderplatz angebracht sind, übertragen das Geschehen zum Einsatzstab, doch es liegt kein Befehl zum Eingreifen vor. Bis auf einzelne Festnahmen gibt es keine weiteren Aktionen gegen die Versammelten. Neben den Westkameras kommt ihnen zugute, dass nur wenige Meter weiter, im Palast der Republik, noch immer die offizielle Feier mit internationalen Staatsoberhäuptern stattfindet. Der DDR-Führung ist nicht daran gelegen, unter den Augen der ausländischen Gäste eine Jagd auf Demonstranten zu veranstalten.
Im Palast der Republik wird unterdessen diniert. Man stimmt sich auf die Feierlichkeiten ein. Die Staatsgäste – unter ihnen der Palästinenserführer Jassir Arafat, der rumänische Staatschef Nicolae Ceausescu und der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow – singen gemeinsam mit dem Gastgeber Erich Honecker die „Internationale“, das Kampflied der marxistischen Arbeiterbewegung.
Die Demonstration, in kurzer Zeit auf circa 3.000 Teilnehmer angewachsen, skandiert nun Rufe wie „Gorbi hilf uns!“, „Keine Gewalt!“ und „Wir sind das Volk!“. Sie sind von den Leipziger Montagsdemonstrationen bekannt. Erst nachdem Michail Gorbatschow das Festbankett in der Innenstadt in Richtung Flughafen Schönefeld verlassen hat, geben Stasi und Volkspolizei ihre Zurückhaltung auf. Ordnungsgruppen der Freien Deutschen Jugend werden eingesetzt, um den Demonstrationszug aufzuhalten.
Der Zug wird aus dem Stadtzentrum abgedrängt und bewegt sich in Richtung Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg, wo seit Tagen eine Mahnwache mit vielen jugendlichen Teilnehmern abgehalten wird. An der Hans-Beimler-Straße (heute Otto-Braun-Straße), Ecke Mollstrasse, dem Sitz der DDR-Nachrichtenagentur ADN, skandieren die Teilnehmer: „Lügner! Lügner!“, „Pressefreiheit!“, Meinungsfreiheit!“. Inzwischen sind Mannschaftswagen der Polizei vorgefahren. Es kommt zu ersten Handgreiflichkeiten. Dann gehen Spezialeinheiten der Stasi brutal gegen die friedlichen Demonstranten vor.
„Gorbi hilf uns!“, „Keine Gewalt!“, „Wir sind das Volk!“
Es wird wahllos zugegriffen, Frauen werden herausgezerrt und verprügelt – ein Trick, um die männlichen Demonstranten zu provozieren. Die Volkspolizei folgt dem Vorbild der Stasi-Einsatzkräfte und prügelt Demonstranten in die bereitstehenden LKW, mit denen Verhaftete abtransportiert werden. Dazu setzt die Volkspolizei Wasserwerfer und, erstmals in der DDR-Geschichte, eigens für diese Art Einsatz entwickelte Räumfahrzeuge ein.
Auch um die Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg gruppieren sich am Abend des 7. Oktober 1989 Sicherheitskräfte. Die Kirche ist schon seit Tagen ein zentraler Treffpunkt der Berliner oppositionellen Szene. Als die Teilnehmer einer Bittandacht für inhaftierte Oppositionelle aus Leipzig das Gotteshaus verlassen wollen, greift die Polizei zu. Sie bildet einen Kessel und verhaftet zahlreiche Leute. Viele Menschen – auch völlig unbeteiligte Anwohner – werden stundenlang auf Ostberliner Polizeirevieren festgehalten, erniedrigt und misshandelt.
Nach ihrer Freilassung schildern viele Verhaftete ihre Erlebnisse in Gedächtnisprotokollen. Diese werden in der Gethsemanekirche gesammelt, wo sich mittlerweile das Zentrum der demokratischen Bewegung in Ost-Berlin befindet. Die Gedächtnisprotokolle vermitteln ein erschütterndes Bild der staatlich angeordneten Gewalt gegen das Volk. (Uta Ihlow, damals 24 Jahre alt, berichtet im Zeitzeugen-Interview über die Ereignisse am 7. Oktober 1989.)
Als Michail Gorbatschow die Stadt verlässt, greift die Polizei zu
Auch am darauffolgenden Tag, dem 8. Oktober, versammeln sich rund 3.000 Besucher in der Gethsemanekirche zu einer Andacht. Nach dem Verlassen des Gotteshauses werden sie von Sondereinheiten der Polizei eingekesselt und gewaltsam auseinandergetrieben. Wieder gibt es Verletzte, wieder gibt es Gefangene. An diesem Tag sind es rund 100 Teilnehmer, die in Ostberliner Gefängnisse wandern.
In den kommenden Tagen und Wochen kommt es zu weiteren Demonstrationen in Berlin. Am 16. Oktober sind es etwa 3.000 Menschen, die auf die Straße gehen, am 21. Oktober folgen Tausende einem anonymen Aufruf zur Bildung einer Menschenkette gegen die staatliche Brutalität. Der Ostberliner Oberbürgermeister Erhard Krack und der Berliner SED-Chef Günter Schabowski stellen sich der Diskussion mit den Demonstranten. Vom 22. bis 24. Oktober wird täglich demonstriert. Vorneweg laufen immer wieder Jugendliche, die sich von der drohenden Gewalt und Erniedrigung nicht abschrecken lassen.
Der 24. Oktober erhält besondere Brisanz: 12.000 Demonstranten fordern, der heute zum Vorsitzenden des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrats gewählte Egon Krenz solle zurücktreten. Zu dieser Demonstration haben die Freunde um Evelyn Zupke (Zeitzeugin) aufgerufen. In der ersten Reihe des langen Zugs laufen die Organisatoren der Mahnwache an der Gethsemanekirche, unter ihnen auch Frank Ebert (Zeitzeuge).
Viele Menschen misstrauen der von Egon Krenz unter dem Druck der Straße zur Schau gestellten Dialogbereitschaft. Sie haben nicht vergessen, dass Egon Krenz noch vor wenigen Monaten einer der Ersten war, der der chinesischen Partei- und Staatsführung Glückwünsche zur blutigen Niederschlagung der dortigen Demokratisierungsbewegung am 3./4. Juni 1989 übermittelt hatte. Vertreter der Bürgerrechtsbewegung Neues Forum haben schon zuvor die Abgeordneten der Volkskammer aufgerufen, Egon Krenz wegen seiner Rolle bei der Fälschung der Kommunalwahlen im Mai 1989 und bei den brutalen Polizeieinsätzen vom 7. und 8. Oktober 1989 nicht zu wählen.
Zitierempfehlung: „Demonstrationen am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145462
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Der 7., 8. Oktober, auch der 9. noch, die waren sehr bedrohlich. Man hat es nicht zu Hause ausgehalten, man wollte unbedingt auf die Straße, vor allen Dingen, weil man wusste: Es passiert irgendwas. Dann fingen die Verhaftungen an. Und diese Massenverprügelungen von Leuten, die sich auf der Straße aufhielten und einfach ein bisschen ´Wir sind das Volk` skandierten. Es ging um ein Mitspracherecht der Leute, der Bürger in ihrem eigenen Land. Es gab Berichte von Leuten, die nach einer Untersuchungshaft wieder rausgekommen sind, und das war total deprimierend. Was denen da passiert ist, das war furchtbar. Für mich war ganz klar: Da setze ich alles entgegen, was ich irgendwie kann. So ging es bestimmt ganz vielen Leuten. Wir hatten vielleicht irgendwie Angst, aber es hatte einen Punkt erreicht, den wir uns wirklich nicht mehr bieten lassen konnten.
Und am 9. brach das plötzlich auf. Da gab es einen Rückzug, damit hatte es sich plötzlich erledigt. Das war eine fast anarchistische Zeit. Die Leute liefen alle mit Zeitungen herum, alle haben diskutiert, wie man jetzt eine wirklich pluralistische, demokratische DDR aufbauen könnte. Ich hatte im Rucksack immer Böhlener Papier und noch irgend ein Thesenpapier, was theoretisch geändert werden müsste. Du hast wirklich manchmal direkt auf der Straße mit Leuten geredet. Ich habe in der Straßenbahn einen Mann getroffen, der hat gerade Zeitung gelesen. Ich habe ihn gefragt, ob ich mal reingucken darf, weil ich irgendwas wissen wollte. Dann sind wir kurz ausgestiegen, ins Café gegangen, haben eine Stunde geredet, ohne zu wissen, wie wir heißen, sind wieder in die Straßenbahn eingestiegen und unserer Wege gefahren. Die Leute haben ganz viel miteinander geredet, überall. Das war eine totale Aufbruchstimmung. Auch wenn es eine Illusion war. Aber bis zur Maueröffnung, bis zum 9.11., war fast die beste Zeit glaube ich, für die ganze DDR.