Die Oppositionsarbeit der Leipziger Basisgruppen
Nach der Friedlichen Revolution wird Leipzig als „Heldenstadt“ bekannt. Die Ereignisse hier bestimmen besonders das Ende des SED-Regimes mit. Doch wer sind diejenigen, die die Initialzündung zu den Demonstrationen der Friedlichen Revolution geben? In Leipzig gibt es Ende der 1980er Jahre ein dichtes Netz aus oppositionellen Kreisen. Ein offener Dialog über gesellschaftliche Fragen wird durch das SED-Regime unterdrückt. Die oppositionellen Gruppen wollen u. a. das staatliche Meinungs- und Informationsmonopol durchbrechen und schaffen eine Gegenöffentlichkeit. Umweltschutz, Abrüstung, Menschenrechte, Ausreise- und Grenzfragen, politische Haft oder Wehrersatzdienst – die Basisgruppen in Leipzig thematisieren vieles, über das die SED nicht reden will. 1989 existieren rund 25 Gruppen mit ca. 300 Mitgliedern, von denen wenige älter als 30 sind. Es handelt sich um eine Graswurzelbewegung, die sich abseits der staatlichen Beschränkungen für das Gemeinwesen einsetzt und politisch engagiert. Mit ihrer Mobilisierungskraft und ihrem DDR-weiten Netzwerk entwickelt sich daraus eine treibende Kraft der Friedlichen Revolution.
Die Arbeitsgruppe Menschenrechte (AGM)
Großen Einfluss auf das gesamte oppositionelle Spektrum in der DDR haben die Friedens- und Menschenrechtsgruppen. Sie erarbeiten intellektuelle Grundlagen und ermutigen mit ihren öffentlich vorgetragenen politischen Forderungen andere oppositionelle Gruppen zum Engagement. Sie sind in Leipzig wesentlich inspiriert von Christoph Wonneberger, dem Pfarrer der Lukas-Gemeinde. Wonneberger ist – spätestens seit er die Koordinierung der ab 1982 stattfindenden Friedensgebete in der Nikolaikirche übernommen hat – eine der prägenden Persönlichkeiten der unabhängigen Gruppen in Leipzig. Seiner Forderung nach einem Sozialen Friedensdienst (SoFd) als Alternative zum Wehrdienst schließen sich Anfang der 1980er Jahre Tausende junge Leute an. Aber die Staats- und Parteiführung reagiert ablehnend auf die Initiative, denn sie sieht den Dienst an der Waffe als beste Möglichkeit, sich für den Frieden einzusetzen.
Die Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen organisieren ihre Arbeit in kirchlichen Räumen oder privaten Wohnungen, wo sie vor den Übergriffen des Staates weitgehend geschützt sind. Von dort aus will der Kreis um Christoph Wonneberger sich politisch engagieren und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR hinterfragen. Während eines Treffens des Kreises im Herbst 1986 besucht der junge Berliner Oppositionelle Peter Grimm (21) von der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) die Leipziger. Sie beschließen, ähnlich wie in Berlin die IFM, in Leipzig eine eigene Gruppe zu gründen und fortan auf Menschenrechtsverletzungen in der DDR und in Osteuropa aufmerksam zu machen. Zu den Oppositionellen, die an diesem Abend in Leipzig die Arbeitsgruppe Menschenrechte (AGM) gründen, gehören neben Christoph Wonneberger u. a. auch Oliver Kloss (24) und Steffen Gresch (21). Später stoßen auch Rainer Müller (20) und Uwe Schwabe (24) sowie die erst 16-jährige Kathrin Walther hinzu.
Um ihr Anliegen in der Öffentlichkeit bekannter zu machen und um weitere Mitglieder zu gewinnen, organisiert die Gruppe für den 24. Mai 1987 in den Räumen der Leipziger Michaeliskirche die Performance „Ich bin so frei – Das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit im Gespräch“. Menschenrechtsverletzungen in der DDR werden dort klar benannt und die verantwortliche Staatsführung öffentlich angeprangert. Die Veranstaltung begeistert das Publikum und der Gruppe schließen sich weitere Mitglieder an. Um auch an der Gestaltung der Leipziger Friedensgebete teilnehmen zu können, beantragen die Mitglieder der AGM am 16. Juni 1987 die Aufnahme ihrer Gruppe in den Bezirkssynodalausschuss für Frieden und Gerechtigkeit. Es handelt sich dabei um ein Gremium aus Basisgruppen, Pfarrern und der Kirchenleitung, welches die Arbeit der unabhängigen kirchlichen Gruppen koordinieren, aber auch kontrollieren soll. Die AGM nutzt den neugewonnenen Einfluss und beantragt die Errichtung eines Kommunikationszentrums. Ähnlich wie in Berlin die Umweltbibliothek (UB) soll auch in Leipzig ein unabhängiges Informations- und Kommunikationszentrum mit einer Bibliothek entstehen, um die Aktivitäten der Basisgruppen zu bündeln. Der Antrag stößt auf den Widerstand der staatlichen Stellen, die befürchten, in Leipzig könne ein weiteres oppositionelles Zentrum entstehen.
Die Arbeit der AGM an dem von Pfarrer Wonneberger erdachten Konzept eines sozialen Friedensdienstes mit öffentlich Informationsveranstaltungen und Unterschriftensammlungen, gipfelt in einem entsprechenden Gesetzesentwurf, der später in das Zivildienstgesetz der DDR von 1990 eingeht. Darüber hinaus nimmt die AGM besonders bei der Gestaltung der wöchentlich stattfindenden Friedensgebete bis einschließlich 1989 eine zentrale Rolle ein.
Der Arbeitskreis Gerechtigkeit (AKG)
Der Arbeitskreis Gerechtigkeit wird 1988 von Studierenden des Theologischen Seminars Leipzig gegründet. Das Seminar in Leipzig ist, neben Naumburg und Berlin, eine von drei evangelischen Hochschulen in der DDR, die nicht der staatlichen Bildungsdoktrin unterliegen. Einige Studierende des Seminars treffen sich bereits regelmäßig zu philosophischen Gesprächszirkeln. Als die Staatssicherheit die UB in Berlin im November 1987 überfällt, erwägen sie die Gründung einer oppositionellen Gruppe, um die Berliner Gruppen in ihrer Arbeit zu unterstützen. Geht die Staatsmacht erneut gegen Angehörige oppositioneller Gruppierungen vor, wollen sie selbst tätig werden. Als dann nach der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17. Januar 1988 in Berlin zahlreiche namhafte Oppositionelle verhaftet werden, gründen sie den Arbeitskreis Gerechtigkeit. Die Mitglieder sind alle zwischen 20 und 28 Jahre alt. Mit dabei sind die Studenten Jochen Läßig (27) und Thomas Rudolph (26). Die Arbeit kann schnell beginnen, denn bereits vor ihrer Gründung hat die Gruppe eine Satzung, Sprecher und klare Verhaltensregeln gegenüber staatlichen Institutionen festgelegt. Mitmachen dürfen aber nicht alle Interessierten, sondern nur Leute, die der Kerngruppe vertrauenswürdig erscheinen.
Erstmals öffentlich in Erscheinung treten die Mitglieder des Arbeitskreises Gerechtigkeit am 26. Januar 1988 in der Kontaktgruppe „Friedensgebet für die Inhaftierten“. Zusammen mit anderen Gruppen sammeln sie dort fortan Informationen zu staatlichen Übergriffen und organisieren Protest- sowie Solidaritätsaktionen für die Opfer staatlicher Übergriffe, wie die der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration. Mitglieder des AKG organisieren und planen ab 1988 fast alle öffentlichen nicht-staatlichen Demonstrationen in Leipzig. Mit diesen Aktionen verstoßen die jungen Oppositionellen gegen das staatliche Demonstrationsverbot. Sie erhoffen sich dabei ganz bewusst, dass die Medien darüber berichten, wenn Oppositionelle verhaftet werden. Auf diese Weise soll sich das SED-Regime selbst als menschenverachtende Diktatur entlarven.
Große Aufmerksamkeit erhält der AKG als er am 5. September 1988 während des Friedensgebetes das Protokoll eines Treffens zwischen Landesbischof Werner Leich und dem Politbüromitglied Werner Jarowinsky verteilt. Bei dem Treffen hat Jarowinsky den Bischof aufgefordert, die Situation in der Kirche wieder zu beruhigen und die oppositionelle Arbeit der Basisgruppen unter dem Dach der Kirche zu beenden. Im Anschluss an die Veröffentlichung der Protokolle versammeln sich 200 Menschen, um gegen diese Bevormundung der Kirche durch den Staat zu demonstrieren. Versuche eine Menschenkette zu bilden, werden allerdings durch die Sicherheitskräfte vereitelt.
Die Initiativ Gruppe Leben (IGL)
Einige Jugendliche um Uwe Schwabe (25) und Frank Sellentin (22) fühlen sich durch das schützende Dach der Kirche beengt. Sie wollen mehr als nur den immer gleichen kleinen kirchlich-oppositionellen Kreis mit Friedensgebeten erreichen und setzten auf öffentlichkeitswirksame Aktionen. Sie verlassen die Arbeitsgruppe Umweltschutz, in der sie zuvor aktiv, und gründen im Mai 1987 die Initiativgruppe Leben (IGL). Für die etwa 30 Mitglieder können die Umweltprobleme in der DDR nur durch größere politische Reformen gelöst werden. Um eine breite Öffentlichkeit auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen, verteilen sie Flugblätter, organisieren Ausstellungen und schreiben Eingaben. Michael Arnold (24) und Uwe Schwabe schreiben auch einen Brief an Michail Gorbatschow, in dem sie dem Generalsekretär der KPdSU zum 57. Geburtstag gratulieren und den Zugang zu Informationen über die gesellschaftlichen Umbrüche in der Sowjetunion bemängeln. Der Brief der beiden findet Beachtung: Sie werden zu Kuchen und Tee in das sowjetische Konsulat eingeladen.
Eine besonders wirkungsvolle Aktion der IGL ist der Pleiße-Gedenk-Umzug am 5. Juni 1988, dem Weltumwelttag, bei dem viele junge Leute mit einem symbolischen Trauermarsch auf die von Umweltverschmutzung gezeichnete Pleiße aufmerksam machen. Erlaubt sind in der DDR nur systemkonforme Demonstrationen. Die Protestaktion mit 200 Demonstrierenden kommt nur zu Stande, weil die Initiatoren sie als kirchliche Veranstaltung anmelden. Der Umzug bewegt sich beinahe ungestört an der Pleiße entlang. Außer einigen wenigen Sicherheitskräften nimmt kaum jemand die Menschenmenge zur Kenntnis. Aber die Aktion gibt den Teilnehmenden Mut und zeigt ihnen, dass Protest in der Öffentlichkeit tatsächlich möglich ist. Mit vielen kleinen kreativen Aktionen untergräbt die IGL das staatliche Meinungsmonopol und macht auf das Unrecht in der DDR aufmerksam. An der offiziellen staatlichen Demonstration zum 1. Mai 1989 nehmen zwei Mitglieder der IGL mit einem eigenen Plakat teil. Sie schmuggeln den Spruch „Wahrheit ist kein Monopol – Offen sein für Alternativen“ unter die offiziellen Losungen und können dem Umzug eine Dreiviertelstunde lang ungestört folgen. Wenige Meter vor der Haupttribüne werden die beiden dann aus dem Zug herausgerissen und abgeführt.
Eine besonders mutige Aktion gelingt Michael Arnold 1989: Er hat genug von den spitzelnden Stasi-Mitarbeitern vor seiner Wohnung und spioniert zurück. Er fotografiert die Stasi-Mitarbeiter bei Ihrem Dienstantritt im Gebäude gegenüber, aus dem sie seine Wohnung oberservieren, und auf ihrem Weg nach Hause. Die Aktion bleibt nicht unbemerkt und Arnold wird zu einem Verhör vorgeladen. Er dreht aber auch in dieser Situation den Spieß um und bespitzelt die Geheimdienstmitarbeiter: Mit einem Walkman in seiner Jackentasche und einem Mikrofon in seinem Ärmel nimmt er das gesamte Verhör auf.
Ein ganzes Oppositionsnetz
Neben der AGM, dem AKG und der IGL agieren in Leipzig in den Jahren 1988 und 1989 noch rund 20 andere oppositionelle Gruppen. Deren Mitglieder sind untereinander stark vernetzt und planen viele Aktionen gemeinsam. Oft arbeiten die Mitglieder in verschiedenen Gruppen gleichzeitig oder nutzen die gleichen Räume zum Druck von Samisdat-Publikationen, Flugblättern oder Plakaten. AKG und AGM organisieren in der Leipziger Lukaskirche vom 7. bis 9. Juli 1989 den „statt-Kirchentag“. Die unabhängige Alternative zum parallel stattfindenden offiziellen Kirchentag besuchen 2.500 Menschen. Auch mit den Gruppen in anderen Städten der DDR pflegen die jungen Leipziger Oppositionellen intensive Kontakte. So gibt es einen monatlich tagenden Sonnabendkreis unter Beteiligung des AKG, der Initiative Frieden und Menschenrechte sowie der Berliner Umweltbibliothek. Die Verbindungen der Leipziger Gruppen reichen bis nach Polen zur „Solidarnosc“ oder nach Tschechien zur „Charta 77“.
Thomas Rudolph, der ab 1988 Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit ist und eine zentrale Position in der Leipziger Szene einnimmt, beschreibt im Nachhinein das Zusammenwirken der Gruppen:
„Eine Diktatur kann man nicht als Einzelkämpfer, sondern nur mit einem diszipliniert wirkenden Team überwinden. Es gab verschiedene und klar zugeteilte Aufgaben. So brachten beispielsweise Kathrin Walther und Frank Richter […] die Fotos von den Demos […] mit dem Motorrad nach Berlin, wo sie Susanne Krug in Empfang nahm, die wiederum die Dokumente einem Helfer von DPA oder AP aushändigte, der sie über die Grenze zu bringen hatte.“
Im Herbst 1989 kann sich die oppositionelle Kraft der Leipziger Basisgruppen voll entfalten – flankiert durch die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Sowjetunion und die immer größer werdende Zahl an Ausreiseantragstellern. Tausende besuchen die Friedensgebete und die Montagsdemonstrationen, die die Leipziger Oppositionellen am 9. Oktober 1989 friedlich um den Innenstadtring führen. Mit dabei auch die Mitglieder der Leipziger Basisgruppen. Nach dem Mauerfall stellen viele der Gruppen ihre Arbeit ein. Schon im März 1989 schließen sich Mitglieder der AGM und des AKG, wie Oliver Kloss, Rainer Müller oder Bernd Oehler, der Initiative Frieden und Menschenrechte an und bilden deren Leipziger Gruppe. Andere beteiligen sich z.B. im Neuen Forum.
Zitierempfehlung: "Die Oppositionsarbeit der Leipziger Basisgruppen", hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung November 2022, www.jugendopposition.de/themen/154324
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