In der sächsischen Stadt Werdau bildet sich 1950 eine Widerstandsgruppe, der etwa 20 Personen angehören, unter ihnen drei Oberschülerinnen und zwölf Oberschüler. „Wir sehnen uns nach Frieden, nach der Einheit Deutschlands in Freiheit – wählt mit NEIN“ steht auf ihren Flugblättern, mit denen sie gegen die Scheinwahlen zur Volkskammer am 15. Oktober 1950 protestieren. Später richten sich ihre Aktionen auch gegen das Todesurteil für Hermann Joseph Flade, der wie sie gegen die Wahlfarce rebelliert hat (Bildergalerie).
Viele der Schüler sind Mitglieder und einige sogar Funktionäre der anfangs überparteilich auftretenden Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ). Dieses politische Engagement dient zunächst einmal nicht der Tarnung. Die Jugendlichen wollen am Aufbau einer neuen demokratischen Gesellschaft aktiv mitwirken.
Zu den Motiven des Widerstands erklärt Achim Beyer, einer der Werdauer Jugendlichen, im Rückblick: „Nach dem Ende des Krieges und des Nationalsozialismus erfuhren wir von den Verbrechen dieser Diktatur. Bei der Lektüre der Flugblätter der Geschwister Scholl aus dem Jahr 1943 wurde uns die Ähnlichkeit – besser Analogie – zwischen dem NS-Regime und dem Stalinismus von 1950 besonders bewusst. Ein Austausch der Begriffe NSDAP gegen SED, HJ gegen FDJ, Gestapo gegen Stasi bot sich an und charakterisierte unsere damalige politische Situation.“
Big brother is watching you: Nein zur Gedankenpolizei
Achim Beyer weiter: „Die Lektüre des Buchs 1984 von George Orwell tat ein Übriges. Zahlreiche Stalin-Porträts an öffentlichen Gebäuden und in der Schule waren der im Buch beschriebene und allgegenwärtige ,Große Bruder`. Die ,Gedankenpolizei` waren die Kontrollkommissionen in der SED und der FDJ. Die verordnete parteiliche Terminologie entsprach dem ,Neusprech`. Das ,Zwiedenken` war somit vorprogrammiert und brauchte nicht einmal erlernt zu werden.“
Die Jugendlichen beschaffen sich bei der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) Druckwalzen für Flugblätter (Bildergalerie). Von der KgU erhalten sie auch Stinkbomben, mit denen sie SED-Veranstaltungen stören. Diese Aktionen erregen großes Aufsehen. Die Sicherheitsorgane fahnden hektisch nach den Urhebern der Flugblätter. In der Nacht vom 18. zum 19. Mai 1951 werden zwei Mitglieder der Gruppe während einer Flugblattaktion verhaftet. In den folgenden Tagen werden die anderen ebenfalls festgenommen.
Am 3. Oktober 1951 verurteilt das Landgericht Zwickau 19 Mitglieder der Widerstandsgruppe zu Strafen zwischen zwei und 15 Jahren Zuchthaus. Sechs der Jugendlichen sind noch minderjährig, darunter drei Mädchen: Anneliese Stets, Gudrun Pleyer und Sigrid Roth (Bildergalerie). Formal ist die Verhandlung öffentlich, doch zum Prozess werden nur etwa 50 ausgesuchte SED-Vertreter zugelassen. Eine Berichterstattung findet in den DDR-Medien nicht statt. Trotzdem wird das Urteil im Westen bekannt. Auch innerhalb der DDR wird die drakonische Strafe durch die KgU mit Flugblättern öffentlich gemacht.
Als Letzter der Verurteilten wird Achim Beyer am 13. Oktober 1956 aus dem Gefängnis entlassen. („Durch zu viel Blödsinn wird man klug“: Im Zeitzeugen-Interview berichtet Achim Beyer über seine Motive, in der DDR-Diktatur Widerstand zu leisten.)
Gerhard Schneider bleibt in Werdau, alle anderen verlassen nach Ende der Haftzeit die DDR. Erst nach der Friedlichen Revolution 1989 darf Gerhard Schneider über sein Schicksal berichten.
Zitierempfehlung: „Werdauer Oberschülerinnen und Oberschüler“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145342
Zum Anschauen des Videos benötigen Sie Javascript oder Flash
„Der Prozess begann um Zehn. Es gab ein paar Pausen, auch die Mittagspause. Die sind nicht genau protokolliert, aber die waren nicht sehr lang. Der Prozess ging bis in die Abendstunden hinein. Am 3. Oktober war Prozessbeginn, die Urteilsverkündung war am 4. Oktober um 0.30 Uhr, laut der amtlichen Protokolle. Dieser 4. Oktober war mein 19. Geburtstag. Die Urteilsverkündung war vorbei, und statt dass die Leute zusammenbrachen oder so, nein: Die stürmten alle auf mich zu und sagten: ,Mensch, wir gratulieren dir zum Geburtstag!'. Da waren die natürlich alle entsetzt.
Jetzt muss ich noch kurz rückblenden. Wir wurden in diesen Saal geführt, den ich im vorigen Jahr mit einem der Freunde wieder aufsuchte. Wir wurden in den Saal geführt, saßen vorn. Neu konstruiert, wer neben wem saß. Hinter uns eine Reihe Volkspolizisten. Ich war froh, dass die hinter mir waren. Denn dann kamen Zuhörer rein, und davon kannte ich fast keinen. Ein paar kannte ich – zum einen meinen Klassenlehrer, zum zweiten meinen Schulleiter. Und dann kamen zwei von der FDJ-Jugendschule, der Schulleiter und der Lehrgangsleiter. Die kamen auf mich zu, um mich prügeln zu wollen. Da hat mich die VOPO vor den Beiden geschützt. Ich konnte das nachvollziehen: Ein Zögling von denen steht plötzlich vor Gericht, als Staatsfeind besonderer Art. So sah es ja aus, unter deren Gesichtspunkt.
Noch einen kleinen Schritt zurück: Die Anklageschrift war eine Vorverurteilung. Man sprach nicht von Angeklagten, sondern von Elementen, die sich durch ihre Tat aus der Gemeinschaft der friedliebenden 800 Millionen Menschen ausgeschlossen haben. Solche Formulierungen sollte man vielleicht wirklich mal im Originaltext nachlesen. Vorher gab es noch etwas, was wir dann erst erfuhren. Die Schulleitung – oder das Lehrerkollegium – hatte uns ausgeschlossen und einen Brief an die Eltern gerichtet, mit der Maßgabe, nie mehr eine Oberschule der DDR besuchen zu dürfen. Da waren wir noch gar nicht verurteilt. Das sind alles solche Dinge, die berührten uns am Rande, aber zeigen natürlich, wie die Situation damals war.
Was für uns natürlich erschreckend war: Es waren keine Angehörigen beim Prozess da. Wir haben die Rechtsanwälte gefragt, und die sagten uns: ,Ja, es ist nicht gestattet worden, dass die Angehörigen teilnehmen.'“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur