Das Urteil gegen die Werdauer Oberschüler sorgt über die Grenzen der DDR hinaus für Empörung. Im November 1951 veröffentlicht die KgU diesen Aufruf, der auch in der DDR verteilt wird. Die in der Namensliste angegebene Anneliese Stets (dritte von unten) war bei ihrer Verurteilung nicht – wie hier aufgeführt – 25, sondern erst 16 Jahre alt. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer Abschrift
Eine Tafel für die Zivilcourage: Das Werdauer Alexander-von-Humboldt-Gymnasium erinnert seit 1997 an den Mut und an das Leid der Oberschüler, die 1951 verurteilt wurden. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft / RHG_Fo_HAB_16323
Die Werdauer Oberschüler bei ihrem Tanzstundenabschlussball 1950. Hintere Reihe: 2. v. l.: Joachim Gäbler, 4. v. l.: Theobald Körner, 10. v. l.: Heinz Rasch; 2. Reihe von vorne: 5. v. l.: Sigrid Roth, 8. v. l.: Siegfried Müller, 10. v. l.: Gerhard Schneider, 12. v. l.: Hermann Krauß; vordere Reihe: 3. v. l.: Gudrun Pleyer; vordere Reihe ganz rechts: Achim Beyer. Quelle: Privatarchiv Achim Beyer
Der 17-jährige Oberschüler Joachim Gäbler im Jahr 1950. Im Prozess gegen die Werdauer Widerstandsgruppe wird er im Oktober 1951 zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt. Auch während des Prozesses lässt er sich nicht einschüchtern und sagt seinem Richter ins Gesicht: „Ich bin stolz darauf, dass ich für die Freiheit gekämpft habe.“ Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Der Unbeugsame: Erkennungsdienstliche Behandlung von Joachim Gäbler nach seiner Verhaftung im Mai 1951. 1992 stellt er, stellvertretend für seine damaligen Mitschüler, einen Strafantrag gegen die noch lebenden Akteure des Prozesses von 1951. Daraufhin ermittelt die Staatsanwaltschaft Dresden wegen Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung gegen ehemalige Richter. Ein Verfahren wird wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt, ein anderes endet mit einer Geldbuße von 4.000 DM. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Zur Werdauer Widerstandsgruppe gehören drei Mädchen. Sigrid Roth (im Bild), Anneliese Stets und Gudrun Pleyer. Alle drei sind bei ihrer Verurteilung noch minderjährig. Die 17-jährige Sigrid Roth wird wegen ihrer Zugehörigkeit zur Widerstandsgruppe zu einer Zuchthausstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Wegen ihrer Zugehörigkeit zur Werdauer Widerstandsgruppe wird Anneliese Stets zu einer Zuchthausstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Bei ihrer Verurteilung ist sie 16 Jahre alt. Das Foto entstand nach ihrer Haftentlassung. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
In der Nacht zum 19. Mai 1951 werden zwei Gruppenmitglieder auf frischer Tat beim Verteilen von Flugblättern ertappt. Am nächsten Morgen verbreitet sich die Nachricht in der Schule. Für Achim Beyer beginnt eine abenteuerliche Flucht, die schließlich mit seiner Verhaftung endet. Am Tag seines 19. Geburtstags wird er zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren verurteilt. Erkennungsdienstliche Behandlung des Häftlings Achim Beyer im Mai 1951. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Kampf gegen unfassbares Unrecht: Das Todesurteil gegen den Oberschüler Hermann Joseph Flade ist für die Werdauer Schüler eine entscheidende Motivation zum Widerstand gegen das SED-Regime. Gegen das unmenschliche Urteil protestieren sie mit diesem selbst gefertigten Flugblatt. Das Urteil wird später aufgrund internationaler Proteste in eine 15-jährige Gefängnisstrafe umgewandelt. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer Abschrift
Aufkleber der KgU, der von den Oberschülern auf Briefkästen, an Haustüren und auf offizielle Plakate in Werdau und Umgebung geklebt wird. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
George Orwells Roman „1984“ kursiert als Tarnschrift mit dem Titel „1848“ unter den Schülern in Werdau. Im Bild: das Deckblatt und die Innenseite des Romans. Quelle: BStU, Ast Chemnitz Z-AP 3/58
Detailliert vermerkt die Volkspolizei den Fund von Flugblättern gegen die Volkskammerwahl vom 15. Oktober 1950 in Werdau. Quelle: BStU, Ast Chemnitz Abschrift
Die Anklageschrift gegen die Werdauer Oberschüler. Kurz vor der Verhandlung erhalten die angeklagten Oberschüler Einsicht in die Anklageschrift. Ihnen werden jedoch Papier, Bleistift und Gesetzbücher zur Vorbereitung auf den Prozess verweigert. Als kurze Zeit später die Anklageschriften wieder eingesammelt werden, kann Achim Beyer sein Exemplar in der Zelle verstecken. Bei einem Besuch im Gefängnis übergibt er seiner Mutter die Anklageschrift, die sie aus dem Gefängnis schmuggelt. Über einen Kurier gelangt das Dokument nach West-Berlin und damit an die Öffentlichkeit. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer, Seite 1 von 3 Abschrift
Die Anklageschrift gegen die Werdauer Oberschüler. Kurz vor der Verhandlung erhalten die angeklagten Oberschüler Einsicht in die Anklageschrift. Ihnen werden jedoch Papier, Bleistift und Gesetzbücher zur Vorbereitung auf den Prozess verweigert. Als kurze Zeit später die Anklageschriften wieder eingesammelt werden, kann Achim Beyer sein Exemplar in der Zelle verstecken. Bei einem Besuch im Gefängnis übergibt er seiner Mutter die Anklageschrift, die sie aus dem Gefängnis schmuggelt. Über einen Kurier gelangt das Dokument nach West-Berlin und damit an die Öffentlichkeit. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer, Seite 2 von 3 Abschrift
Die Anklageschrift gegen die Werdauer Oberschüler. Kurz vor der Verhandlung erhalten die angeklagten Oberschüler Einsicht in die Anklageschrift. Ihnen werden jedoch Papier, Bleistift und Gesetzbücher zur Vorbereitung auf den Prozess verweigert. Als kurze Zeit später die Anklageschriften wieder eingesammelt werden, kann Achim Beyer sein Exemplar in der Zelle verstecken. Bei einem Besuch im Gefängnis übergibt er seiner Mutter die Anklageschrift, die sie aus dem Gefängnis schmuggelt. Über einen Kurier gelangt das Dokument nach West-Berlin und damit an die Öffentlichkeit. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer, Seite 3 von 3 Abschrift
Urteil gegen die Werdauer Oberschüler mit handschriftlichen Korrekturen des Vorsitzenden Richters. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer, Seite 1 von 2 Abschrift
Urteil gegen die Werdauer Oberschüler mit handschriftlichen Korrekturen des Vorsitzenden Richters. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer, Seite 2 von 2 Abschrift
Das Urteil gegen die Werdauer Oberschüler sorgt über die Grenzen der DDR hinaus für Empörung. Im November 1951 veröffentlicht die KgU diesen Aufruf, der auch in der DDR verteilt wird. Die in der Namensliste angegebene Anneliese Stets (dritte von unten) war bei ihrer Verurteilung nicht – wie hier aufgeführt – 25, sondern erst 16 Jahre alt. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer Abschrift
Eine Tafel für die Zivilcourage: Das Werdauer Alexander-von-Humboldt-Gymnasium erinnert seit 1997 an den Mut und an das Leid der Oberschüler, die 1951 verurteilt wurden. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft / RHG_Fo_HAB_16323
Die Werdauer Oberschüler bei ihrem Tanzstundenabschlussball 1950. Hintere Reihe: 2. v. l.: Joachim Gäbler, 4. v. l.: Theobald Körner, 10. v. l.: Heinz Rasch; 2. Reihe von vorne: 5. v. l.: Sigrid Roth, 8. v. l.: Siegfried Müller, 10. v. l.: Gerhard Schneider, 12. v. l.: Hermann Krauß; vordere Reihe: 3. v. l.: Gudrun Pleyer; vordere Reihe ganz rechts: Achim Beyer. Quelle: Privatarchiv Achim Beyer
Ein Foto aus unbeschwerten Jugendtagen: Faschingsfeier der Werdauer Abiturklasse 1951. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
b
a
In der sächsischen Stadt Werdau bildet sich 1950 eine Widerstandsgruppe, der etwa 20 Personen angehören, unter ihnen drei Oberschülerinnen und zwölf Oberschüler. „Wir sehnen uns nach Frieden, nach der Einheit Deutschlands in Freiheit – wählt mit NEIN“ steht auf ihren Flugblättern, mit denen sie gegen die Scheinwahlen zur Volkskammer am 15. Oktober 1950 protestieren. Später richten sich ihre Aktionen auch gegen das Todesurteil für Hermann Joseph Flade, der wie sie gegen die Wahlfarce rebelliert hat (Bildergalerie).
Viele der Schüler sind Mitglieder und einige sogar Funktionäre der anfangs überparteilich auftretenden Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ). Dieses politische Engagement dient zunächst einmal nicht der Tarnung. Die Jugendlichen wollen am Aufbau einer neuen demokratischen Gesellschaft aktiv mitwirken.
Zu den Motiven des Widerstands erklärt Achim Beyer, einer der Werdauer Jugendlichen, im Rückblick: „Nach dem Ende des Krieges und des Nationalsozialismus erfuhren wir von den Verbrechen dieser Diktatur. Bei der Lektüre der Flugblätter der Geschwister Scholl aus dem Jahr 1943 wurde uns die Ähnlichkeit – besser Analogie – zwischen dem NS-Regime und dem Stalinismus von 1950 besonders bewusst. Ein Austausch der Begriffe NSDAP gegen SED, HJ gegen FDJ, Gestapo gegen Stasi bot sich an und charakterisierte unsere damalige politische Situation.“
Big brother is watching you: Nein zur Gedankenpolizei
Achim Beyer weiter: „Die Lektüre des Buchs 1984 von George Orwell tat ein Übriges. Zahlreiche Stalin-Porträts an öffentlichen Gebäuden und in der Schule waren der im Buch beschriebene und allgegenwärtige ,Große Bruder`. Die ,Gedankenpolizei` waren die Kontrollkommissionen in der SED und der FDJ. Die verordnete parteiliche Terminologie entsprach dem ,Neusprech`. Das ,Zwiedenken` war somit vorprogrammiert und brauchte nicht einmal erlernt zu werden.“
Die Werdauer Oberschüler knüpfen Kontakte zur KgU nach West-Berlin. Von der KgU erhalten sie unter anderem vorgefertigte Druckwalzen, ähnlich den üblichen Malerrollen, mit denen sie Flugblätter in größeren Auflagen herstellen. Im Bild: ein von den Oberschülern mit einer Walze der KgU hergestelltes und in Werdau verteiltes Flugblatt. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Die Werdauer Oberschüler knüpfen Kontakte zur KgU nach West-Berlin. Von der KgU erhalten sie unter anderem vorgefertigte Druckwalzen, ähnlich den üblichen Malerrollen, mit denen sie Flugblätter in größeren Auflagen herstellen. Im Bild: ein von den Oberschülern mit einer Walze der KgU hergestelltes und in Werdau verteiltes Flugblatt. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Die Werdauer Oberschüler knüpfen Kontakte zur KgU nach West-Berlin. Von der KgU erhalten sie unter anderem vorgefertigte Druckwalzen, ähnlich den üblichen Malerrollen, mit denen sie Flugblätter in größeren Auflagen herstellen. Im Bild: ein von den Oberschülern mit einer Walze der KgU hergestelltes und in Werdau verteiltes Flugblatt. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Ein von den Oberschülern mit einer Walze der KgU hergestelltes und in Werdau verteiltes Flugblatt. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
b
a
Die Jugendlichen beschaffen sich bei der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) Druckwalzen für Flugblätter (Bildergalerie). Von der KgU erhalten sie auch Stinkbomben, mit denen sie SED-Veranstaltungen stören. Diese Aktionen erregen großes Aufsehen. Die Sicherheitsorgane fahnden hektisch nach den Urhebern der Flugblätter. In der Nacht vom 18. zum 19. Mai 1951 werden zwei Mitglieder der Gruppe während einer Flugblattaktion verhaftet. In den folgenden Tagen werden die anderen ebenfalls festgenommen.
Am 3. Oktober 1951 verurteilt das Landgericht Zwickau 19 Mitglieder der Widerstandsgruppe zu Strafen zwischen zwei und 15 Jahren Zuchthaus. Sechs der Jugendlichen sind noch minderjährig, darunter drei Mädchen: Anneliese Stets, Gudrun Pleyer und Sigrid Roth (Bildergalerie). Formal ist die Verhandlung öffentlich, doch zum Prozess werden nur etwa 50 ausgesuchte SED-Vertreter zugelassen. Eine Berichterstattung findet in den DDR-Medien nicht statt. Trotzdem wird das Urteil im Westen bekannt. Auch innerhalb der DDR wird die drakonische Strafe durch die KgU mit Flugblättern öffentlich gemacht.
Als Letzter der Verurteilten wird Achim Beyer am 13. Oktober 1956 aus dem Gefängnis entlassen. („Durch zu viel Blödsinn wird man klug“: Im Zeitzeugen-Interview berichtet Achim Beyer über seine Motive, in der DDR-Diktatur Widerstand zu leisten.)
Gerhard Schneider bleibt in Werdau, alle anderen verlassen nach Ende der Haftzeit die DDR. Erst nach der Friedlichen Revolution 1989 darf Gerhard Schneider über sein Schicksal berichten.
Zitierempfehlung: „Werdauer Oberschülerinnen und Oberschüler“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145342
#4 The media (this is projekktor) could not be loaded because the server or network failed.
„Der Prozess begann um Zehn. Es gab ein paar Pausen, auch die Mittagspause. Die sind nicht genau protokolliert, aber die waren nicht sehr lang. Der Prozess ging bis in die Abendstunden hinein. Am 3. Oktober war Prozessbeginn, die Urteilsverkündung war am 4. Oktober um 0.30 Uhr, laut der amtlichen Protokolle. Dieser 4. Oktober war mein 19. Geburtstag. Die Urteilsverkündung war vorbei, und statt dass die Leute zusammenbrachen oder so, nein: Die stürmten alle auf mich zu und sagten: ,Mensch, wir gratulieren dir zum Geburtstag!'. Da waren die natürlich alle entsetzt.
Jetzt muss ich noch kurz rückblenden. Wir wurden in diesen Saal geführt, den ich im vorigen Jahr mit einem der Freunde wieder aufsuchte. Wir wurden in den Saal geführt, saßen vorn. Neu konstruiert, wer neben wem saß. Hinter uns eine Reihe Volkspolizisten. Ich war froh, dass die hinter mir waren. Denn dann kamen Zuhörer rein, und davon kannte ich fast keinen. Ein paar kannte ich – zum einen meinen Klassenlehrer, zum zweiten meinen Schulleiter. Und dann kamen zwei von der FDJ-Jugendschule, der Schulleiter und der Lehrgangsleiter. Die kamen auf mich zu, um mich prügeln zu wollen. Da hat mich die VOPO vor den Beiden geschützt. Ich konnte das nachvollziehen: Ein Zögling von denen steht plötzlich vor Gericht, als Staatsfeind besonderer Art. So sah es ja aus, unter deren Gesichtspunkt.
Noch einen kleinen Schritt zurück: Die Anklageschrift war eine Vorverurteilung. Man sprach nicht von Angeklagten, sondern von Elementen, die sich durch ihre Tat aus der Gemeinschaft der friedliebenden 800 Millionen Menschen ausgeschlossen haben. Solche Formulierungen sollte man vielleicht wirklich mal im Originaltext nachlesen. Vorher gab es noch etwas, was wir dann erst erfuhren. Die Schulleitung – oder das Lehrerkollegium – hatte uns ausgeschlossen und einen Brief an die Eltern gerichtet, mit der Maßgabe, nie mehr eine Oberschule der DDR besuchen zu dürfen. Da waren wir noch gar nicht verurteilt. Das sind alles solche Dinge, die berührten uns am Rande, aber zeigen natürlich, wie die Situation damals war.
Was für uns natürlich erschreckend war: Es waren keine Angehörigen beim Prozess da. Wir haben die Rechtsanwälte gefragt, und die sagten uns: ,Ja, es ist nicht gestattet worden, dass die Angehörigen teilnehmen.'“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur