Was ihre Bevölkerungsstruktur in der DDR anbelangt, nimmt die Stadt Jena in den 1980er Jahren eine Sonderstellung ein. Der kleine Ort wächst vor allem durch die Universität und das Zeiss-Werk rasch zu einer Groß- und Industriestadt heran. 1975 hat Jena über 100.000 Einwohner. Vor allem junge Menschen ziehen hierher: um zu studieren oder sich in einem der Großbetriebe wie VEB Jenapharm und VEB Carl Zeiss Jena ausbilden zu lassen. Jena ist bekannt für seine optische und pharmazeutische Industrie sowie für seine Glaswerke.
Das kulturelle Angebot für Jugendliche hinkt den Wünschen allerdings hinterher. Manche Studenten und Lehrlinge versuchen deshalb, eigene Alternativen zu entwickeln – unabhängig von SED- und FDJ-Veranstaltungen. Viele Aktivitäten werden privat organisiert: Wanderungen ins Umland, Hoffeste, Kunstausstellungen, Kinderfeste, Lesungen, Konzerte. Bei diesen Gelegenheiten wird nicht nur gefeiert, sondern auch über die politischen Zustände im Land diskutiert.
Manchmal gelingt es den Jugendlichen, öffentliche Räume für ihre kulturellen Aktivitäten zu erobern. 1973 initiiert der 21-jährige Autor Lutz Rathenow einen Zirkel in seiner Wohnung: Literatur und Lyrik. Drei Monate später zieht der Kreis ins Kulturhaus Jena-Neulobeda. Hier können auch Autoren auftreten, die außerhalb der offiziellen DDR-Literaturszene agieren, zum Beispiel Bernd Markowsky und Wolfgang Hinkeldey.
Junge Jenenser widersetzen sich dem befohlenen Kulturprogramm
Auch Jürgen Fuchs liest in Jena-Neulobeda. 1975, zwei Jahre nach der Gründung, wird der Zirkel von den Behörden zerstört. Die zuständigen SED-Kulturfunktionäre haben Wind davon bekommen, dass die jungen Leute dort auch über etwas anderes diskutieren als nur über Literatur.
Einer der tragenden Pfeiler der alternativen Jugendkultur in Jena ist die Junge Gemeinde (JG) Stadtmitte. Ab März 1983 kommt die Friedensgemeinschaft Jena hinzu, die teilweise aus der JG hervorgeht. (Dorothea Fischer berichtet im Zeitzeugen-Interview darüber.)
Unter dem Dach der Kirche organisieren Jenaer Jugendliche ihr eigenes Kulturprogramm. Die offizielle Unterstützung durch die Kirchengemeinden beschränkt sich meist auf die kostenlose Bereitstellung von Räumlichkeiten. Und doch: Mancher Diakon hilft auf eigenes Risiko und ohne Absprache mit der Kirchenleitung den Aktivisten bei Widerstandsaktionen – zum Beispiel beim Vervielfältigen von Flugblättern. Häufig finden die Veranstaltungen im Rahmen der sogenannten Offenen Arbeit der Kirche statt. Und immer unter den Argusaugen der Staatssicherheit.
Im Februar 1983 verfasst die Geraer Bezirksverwaltung der Stasi eine „Jahreseinschätzung zur politisch-operativen Lage unter der Jugend des Bezirkes Gera“ (Bildergalerie). Dabei stellen die Stasi-Leute fest: „Zunehmend zeigt sich, daß Jugendliche und Jungerwachsene eine bevorzugte Zielgruppe des Gegners darstellen. [...] Territoriale Schwerpunkte bilden die Kreise Jena, Saalfeld und die Bezirksstadt (Gera).“
Als problematisch empfindet die Stasi unter anderem „die Unterwanderung und Schwächung der Wehrbereitschaft, Verteidigungs- und Friedenspolitik der sozialistischen Staaten“. Sie glaubt auch, eine „Unterwanderung der sozialistischen Jugend“ sowie eine „Diffamierung der Tätigkeit der Schutz- und Sicherheitsorgane“ zu erkennen.
Zitierempfehlung: „Die junge oppositionelle Szene in Jena“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145329
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1. Interviewpartner: „Und dann war es praktisch so, dass 83 nach dieser Ausreisegeschichte die Friedensbewegung weg war aus Jena. Eine ganze Generation hat da im Prinzip gefehlt. Und da hat sich viel herausgebildet, also Ideen: Wir haben in der JG Theater gespielt, alles Mögliche, die Musik eben gemacht und zum Beispiel Wohnungen besetzt, was für uns auch ein sehr wichtiger Punkt war in der Persönlichkeitsentwicklung und im Allgemeinen – von zu Hause weg zu sein und alleine zu leben und viele Erfahrungen persönlich zu machen, auch negative Erfahrungen mit Behörden und allen möglichen Leuten. Da hat sich die Möglichkeit für uns geboten, uns auch zu treffen, ständig und unkontrolliert. Es hat sich eben viel entwickelt daraus, also mehr Sachen, die zunächst gar nicht politisch motiviert waren, ganz einfach so lustige Sachen. Wir sind wandern gegangen, haben Fahrradtouren gemacht, alles Mögliche, Filme gedreht und viel Spaß gehabt. Haben uns total lustig angezogen, allen möglichen Unsinn im Prinzip gemacht. Mehr oder weniger Unsinn war`s … Aber alles, was nicht irgendwie vorher geprüft wurde oder wo nicht von oben schon eine Zulassung da ist zum ZK, dass es vielleicht irgendwo ein Funktionär mal lesen konnte, war von vornherein schlecht, ohne zu prüfen, was es war, ohne überhaupt darüber nachzudenken, was es bezwecken sollte oder so …“
2. Interviewpartner: „Ja, wichtig ist eben, dass die Leute das eben nicht begriffen haben, dass wir nicht versucht haben, gegen den Staat zu leben, sondern dass wir versucht haben, eher ohne den Staat zu leben. Also eigene Wege auszuprobieren und Freiräume zu sichten, die im Prinzip noch gar nicht da waren sozusagen. Und so entstanden dann eben verschiedene Aktionen, die wir dann zusammen organisiert haben und die von dem besetzten Haus, was wir hatten, ausgegangen sind.“