Am 7. Mai 1989 sind die DDR-Bürger wieder einmal aufgerufen, die „Kandidaten der Nationalen Front“ zu wählen. Das Wahlverfahren ist wie eh und je nur scheinbar demokratisch: Auf einer von der SED abgesegneten Einheitsliste stehen die Kandidaten, die fast keinem der Wähler bekannt sind. Eine Abstimmung über einzelne Wahlvorschläge ist nicht möglich. Für die gesamte Liste gibt es nur die Unterscheidung zwischen Ja-Stimme, Nein-Stimme und ungültiger Stimme. In der Bevölkerung wird der Gang zur Wahlurne deshalb auch treffend als „Zettelfalten“ bezeichnet.
Was nur wenige DDR-Bürger wissen: Eine Nein-Stimme, also eine Ablehnung des Wahlvorschlags, wird nur dann anerkannt, wenn der Wähler auf der Liste jeden einzelnen Namen säuberlich durchstreicht. Jede Abweichung von dieser äußeren Form macht den Stimmzettel ungültig.
Zwar ist in jedem Wahlbüro eine Wahlkabine aufgebaut, doch werden die Bürger, die die Kabine benutzen, von den bestellten linientreuen Wahlhelfern registriert: In einem sozialistischen Staat hat in ihren Augen ein rechtschaffener Mensch nichts zu verbergen.
Es gibt die ungeschriebene Verpflichtung, an der Wahl teilzunehmen, und die Wahlbeteiligung der DDR-Bevölkerung liegt auch ohne die unmittelbare Anwendung von Druckmitteln bei weit über 90 Prozent. Wer jedoch bis 16 Uhr nicht ins Wahllokal kommt, muss damit rechnen, dass ihn Wahlhelfer zu Hause aufsuchen, um die fehlende Stimme abzuholen. Die Wahlkreise konkurrieren untereinander um die höchste Zustimmungsrate. 99 Prozent sollen es am besten sein – und so muss hier und da manipuliert werden.
Schon im Vorfeld der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 kritisieren oppositionelle Gruppen das Wahlverfahren und fordern freie, demokratische Wahlen. Einige Oppositionsgruppen rufen zum Wahlboykott auf. Andere fordern die DDR-Bürger auf, erst recht zur Wahl zu gehen und aus Protest mit Nein zu stimmen. Oder gleich ungültige Stimmen abzugeben.
In Ost-Berlin und anderen Orten organisieren Oppositionsgruppen am Tag der Wahlen eine regelrechte Wahlkontrolle: Zahlreiche Oppositionelle nehmen am 7. Mai 1989 in verschiedenen Teilen der Republik in den Wahllokalen an der öffentlichen Auszählung der Stimmen teil. Einige informieren sich vor den Wahlen ausführlich über die gesetzlichen Grundlagen, die den DDR-Bürgern eine Teilnahme an den Auszählungen zusichern. Sie geben diese Informationen in Schulungen und auf Flugblättern an die Wahlbeobachter weiter (Bildergalerie).
Damit unterscheidet sich die Situation von der bisheriger Wahlen deutlich. Zwar wurden früher auch schon einzelne Auszählungen „begleitet“, doch im Mai 1989 finden erstmals Wahlkontrollen an vielen verschiedenen Orten des Landes statt. Ihr Ziel ist es, den Wahlbetrug nachzuweisen.
In Berlin werden die Kontrollen der Auszählungen unter anderem durch Mitglieder des Weißenseer Friedenskreises, der Umwelt-Bibliothek (UB) und der Kirche von Unten organisiert. Die Mehrzahl der Leute, die sich hier engagieren, sind junge Menschen. Im Ostberliner Stadtteil Weißensee nehmen auch Schüler an der Beobachtung der Auszählungen teil.
In einigen Wahllokalen verwehren die offiziellen Wahlhelfer den Beobachtergruppen widerrechtlich den Zutritt. Dennoch gelingt es vielen Beobachtern im ganzen Land, die Auszählungen zu verfolgen.
In Berlin wird noch am Abend der Wahlparty in den Räumen der Kirche von Unten ausgezählt. Die Ergebnisse der nächsten Tage bestätigen: Die Wahl ist gefälscht.
Die Ergebnisse der oppositionellen Wahlbeobachter aus dem ganzen Land werden schriftlich festgehalten und in einem Papier mit dem Titel „Wahlfall“ verbreitet, das in der UB gedruckt wird. Diese Dokumentation des staatlichen Wahlbetrugs ist die erste ihrer Art in der DDR. 1989 sprechen und schreiben die Korrespondenten der Westmedien im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen in der DDR das erste Mal das Wort "Fälschung" offen aus und zitieren dabei aus dem Wahlfall.
Nachgezählt: Das offizielle Wahlergebnis ist Lug und Trug
Das Staatsblatt Neues Deutschland veröffentlicht ganz andere Zahlen (Bildergalerie). Das Ergebnis ist erschreckend: Die offizielle Verlautbarung unterschlägt zahlreiche Gegenstimmen im ganzen Land. Die Oppositionsgruppen erheben sofort Protest: Zum einen hagelt es Eingaben an die Staatsführung, zum anderen gehen die Gruppen landesweit mit ihrem Protest auf die Straße. Die mit knapp 200 Teilnehmern erste größere Wahldemonstration findet einen Monat später statt: am 7. Juni 1989, vor dem Gebäude des Konsistoriums der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg in Ost-Berlin (Bildergalerie).
Der starke Einsatz von Sicherheitskräften verhindert, dass der Demonstrationszug wie geplant bis zum Staatsratsgebäude ziehen kann. Evelyn Zupke und ihre Mitstreiter werden rund um die Uhr überwacht und zu sinnlosen Verhören abgeholt.
In Berlin wird der Alexanderplatz in den folgenden Monaten zum regelmäßigen Treffpunkt (an jedem Siebten des Monats) für Demos gegen den Wahlbetrug. Immer sind es vor allem junge Menschen, wie Frank Ebert und Evelyn Zupke, die sich mit ihrem Protest an die Öffentlichkeit wagen. (Evelyn Zupke, die sich im Weißenseer Friedenskreis engagiert, berichtet im Zeitzeugen-Video über ihren Einsatz gegen die Wahlfälschung und die Verhaftungen, bei denen die Stasi zum Teil brutal vorgeht.)
Am 7. Juli verhindern gut 1.000 aufmerksame treue Genossen, die auf dem großen Platz verteilt sind, dass eine Demonstration mit knapp 30 Leuten zustande kommt. Sie fangen potenzielle Demonstranten schon in den Nebenstraßen ab, und so mancher Bürger wird verhaftet. Der brutale Einsatz der Sicherheitskräfte führt dazu, dass sich Unbeteiligte spontan mit den Demonstrierenden solidarisieren. Bei den folgenden Demonstrationsversuchen geht die Stasi nicht ganz so offensiv gegen die Oppositionellen vor.
Ein Stasi-Überwachungsvideo zeigt, wie sich die Sicherheitsorgane am 7. September 1989 bemühen, eine Ansammlung von kaum 30 Oppositionellen auf dem Alexanderplatz zu verhindern, ohne dabei großes Aufsehen zu erregen. Wie die Bilder zeigen, gelingt ihnen das nicht. Auch dieses Mal gehen die Sicherheitsleute mit Brutalität vor. Und dem Personal der angrenzenden Cafés wird erzählt, dass man hier gerade einen Film drehen würde.
Zitierempfehlung: „Proteste gegen den Wahlbetrug“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Juli 2019, www.jugendopposition.de/145314
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Moderatorin: „Solchermaßen sprachlich eingeschränkt gibt sich da die Polizei nicht. Die hat ein bewährtes Handlungsmuster: Zuführen` heißt das. Genau das taten sie mal wieder. Diesmal am 7. Juni, als so ca. 150 Leute eine Eingabe gegen das offizielle Wahlergebnis beim Staatsrat vorbeibringen wollten. Nie genug vom Wahlbetrug`, stand auf einem Transparent. Treffpunkt war das Konsistorium. Von da aus sollte es weitergehen. Aber die Sicherheitskräfte waren auch schon zahlreich vertreten, sodass man sich zunächst bei der Sophienkirche wiederfand. Was dann in der Sophienkirche geschah, das schildert ein weiterer Beobachter.“
Demonstrationsteilnehmer aus Ost-Berlin: „Schließlich trafen wir uns dann doch alle im Sophiengelände. Auch hier war die Meinung unterschiedlich. Einige sagten: Wir wollen unser Zeichen setzen und von hier aus zum Staatsrat. Andere sagten: Lasst uns zuvor miteinander eine Andacht halten. Hier gab es eine deutliche Kontroverse, einen Dialog, ein kraftvoller, wenn ich so sagen darf. Und einige von uns meinten, sie kämen nicht zu Wort, wenn sie es nicht noch lauter sagten. Es war beherzt und behänd, behänd weniger. Schließlich meinte doch ein großer Teil – ich denke so 60, 70 – zunächst einmal von uns, wir müssten unseren Weg gehen. Sie fanden ihn nicht, denn wieder war die Sicherheit zur Stelle, und das Weggelände war abgesteckt oder abgegrenzt. Man entschloss sich, die Gruppe entschloss sich, sich auf dem Bürgersteig der Sophienkirche niederzulassen, friedlich, freundlich, eingehakt, sich gegenseitig ermutigend und immer wieder versuchend, mit den Organen, mit den Polizisten ins Gespräch zu kommen. Auch die haben sich – ganz wenig, aber doch löblich, denke ich, dankbar will ich das vermerken – auf Gespräche eingelassen. Aber letztendlich: Alles Bemühen, auch das Bemühen zum Magistrat hin, so muss man offen sagen, fruchtete nicht. Es gab Bemühen, sicher, aus unterschiedlicher Sicht. Von allen Seiten war dann doch das schrille Kommando zum, so muss ich jetzt leider sagen, Abräumen gegeben. Und so griffen sie zu – die, die es so gelernt hatten –, professionell, schmerzhaft. Schmerzhaft auch für uns, dass Menschen, die freundlich und zur Kommunikation einladend und ohne Gewalt, nun doch gewaltsam und in schlimmer Manier dort aufgeladen wurden. Sie wurden weggefahren, und wir standen ratlos und hilflos. Haben dann eingeladen zu einer Andacht in der Kirche. Haben dort miteinander gedacht und in der Fürbitte an die gedacht, die nun unterwegs waren und von denen wir hofften, dass sie bald wieder draußen sein könnten. Auch da gab es noch einmal eine Diskussion. Aber schließlich konnten wir, auch von der Polizei und den Sicherheitsorganen weitgehend unbehelligt, nach Hause gehen. Haben gehofft und erwartet und auch Kontakte gesucht, damit die, die nun zugeführt waren, bald wieder herauskamen. Ich habe in der Nacht noch telefoniert, oder wir haben es getan. Aber erst am frühen Morgen – so die Ersten wohl um zwei, um drei, unterschiedlich – bis gegen sechs waren die Letzten zu Hause, müde und doch froh. So habe ich mitgekriegt, dass es dann letztendlich so gelaufen ist. Ich meine – letzte Bemerkung dazu, es ist eine wertende: Wenn alle oder wenn viele sagen, es hat doch nichts genützt, es hat doch nichts bewirkt, es hat doch nichts geholfen – ich denke, es hat etwas bewegt. Ich habe nachdenkliche Gesichter bei der Polizei, bei Mitarbeitern des Staatsapparates gesehen. Und wenn mir das jemand ausreden will, dem will ich widersprechen. Das lasse ich mir nicht ausreden! Wider aller Einrede behaupte ich, es hat sich etwas bewegt in den Köpfen. An manchen Gesichtern und mancher Nachdenklichkeit habe ich es gespürt. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit!“