Abschrift
Ich bin ja praktisch am 8. oder 9. November illegal, ohne dass ich das durfte, nach Berlin gefahren, um meinen Geburtstag zu feiern. In dem Chaos, in dem sie unser Haus nicht mehr ständig überwachen konnten, weil Leipzig sich so verändert hatte und so viele Leute inzwischen dort politisch aktiv waren, dass man nicht mehr die Kraft gehabt hat, uns rund um die Uhr zu bewachen, konnte ich einfach verschwinden. Ohne meinen Ausweis und ohne dass ich das eben durfte oder mich abmelden oder melden musste, habe ich gedacht: „Okay, ich versuche es mal einfach, was soll schon passieren, außer dass ich wieder reinfahre?“ Und reinfahren würde ich sowieso wieder, wenn es soweit ist. Also kann ich mich erst mal nach Berlin absetzen. Dass die Nacht meines Geburtstages auch die Nacht sein würde, in der die Mauer aufgeht, das konnte ich auch nicht wissen. Auch wenn heute manche Leute sagen: „Das musste ja so kommen!“ Also ich habe in der Nähe der Bornholmer Brücke in einer Kneipe gesessen und nein, ich habe es nicht gewusst. Erst als die Leute da alle verschwunden sind und gesagt haben: „Wir haben da was gehört und der Schabowski hat irgendwas gesagt und wir gehen da mal hin.“ Und als meine Freunde dann auch da hingehen wollten, da konnte ich ja nicht sagen: „Ach nee, machen wir jetzt nicht.“ Aber ich habe natürlich schon gesagt: „Ey, wartet, Leute, ich habe gar keinen Ausweis mit; keine Papiere, ich bin eigentlich illegal in der Stadt. Wäre jetzt blöde, wenn ich noch an den nächsten Checkpoint gehe und sage: Hier bin ich, aber. Das wäre jetzt echt doof.“ Also nur um die Situation mal zu beschreiben. Wo meine Freunde dann gesagt haben: „Ja Katti, aber wenn jetzt wirklich die Mauer fällt, dann ist das doch alles irrelevant.“ Okay, gut! Dann gehen wir mal hin und gucken. Und als ich mitgekriegt habe, dass die ersten noch ihre Papiere zeigen mussten, da habe ich erst mal gewartet, denn ich bin ja erst mit der Welle da rüber, die dann praktisch gar nichts mehr vorzeigen musste, die einfach so da durchgeströmt ist. Das ist ja diese seltsame Doppelbödigkeit. Ich kam aus dem Gefängnis und ich war noch nicht ganz in dieser Welt. Ich habe gedacht: Warte mal, wenn ich jetzt hier rüber gehe, kann ich dann wieder zurück? Du denkst dann auch an deine Familie und alles Mögliche. Aber dann habe ich gedacht: „Okay, die strömen jetzt hier alle rüber. Ja, es ist genau dieses Glücksgefühl, was es sein soll. Dann hoffen wir mal, dass wir alle zurückkommen können.“