Abschrift
Ich selber war fast ohne Unterbrechung in der Gethsemanekirche bzw. in dem Gemeindehaus, wo unten das Kontakttelefon arbeitete. Wir haben schon in den Monaten zuvor immer, wenn es zu kritischen Situationen kam, dieses Telefon rund um die Uhr besetzt. Da war immer jemand von uns da. Sehr, sehr viele Leute hatten auch die Nummer dieses Telefons in der Jeanstasche zu stecken oder im Kopf. Damals, also zum 7. Oktober, und das war sehr gut, war die Nummer des Kontakttelefons schon etwas Bekanntes, was viele parat hatten. Wir haben uns manchmal gefragt, warum die dieses Telefon nicht einfach abgeklemmt haben, weil es ja ein wichtiges Instrument für uns war. Aber offenbar war es für die SED in so einer Art von Abwägung dann wichtiger, über dieses Telefon auf dem Laufenden zu sein über das, was wir taten und wussten. Es war uns klar, dass das abgehört wurde. Aber es war so wichtig, dass wir wirklich eine wesentliche Adresse waren. Uns teilten Leute bestimmte Beobachtungen mit oder fragten, wo man was unterschreiben kann, oder, oder. Das war schon stark gefragt.
Es riefen uns viele an und erzählten uns, was sie an dieser oder jener Straßenkreuzung beobachtet haben. Da ist ein Lkw voll beladen worden mit Menschen, die mit unbekanntem Ziel abtransportiert wurden. Und wir haben immer nur gefragt: Habt ihr jemand erkannt? Hat euch jemand noch seinen Namen genannt? Wie viel waren es ungefähr? Wann genau die Zeit? Und haben versucht, das zu protokollieren. Dadurch konnten wir zu einem relativ frühen Zeitpunkt abschätzen, wie viel an dem Abend verhaftet – die Stasi sagt ja immer: zugeführt – worden sind.
Später stellte sich heraus, dass wir mit unseren Schätzungen gar nicht so falsch lagen. Am nächsten Tag dann wurden die Ersten wieder aus diesen Zuführungspunkten, so hieß das, entlassen und hatten zum Teil ganz furchtbare Dinge erlebt. Als sie überlegten, wo gehe ich denn jetzt hin, gingen sie nicht nach Hause. Sondern die kamen zu uns zum Kontakttelefon und wollten erzählen. Aber wenn da drei, vier Leute hintereinander erzählen wollen, dann schafft man das irgendwann nicht mehr, sodass ich mehr oder weniger als Notbehelf dem einen ein Stück Papier gegeben hab und einen Stift und gesagt hab: „Du, ich hab jetzt keine Zeit. Schreib das doch mal alles auf.“ Das habe ich bei noch jemandem gemacht. Und als wir dann diese Berichte gesehen haben, da fiel der Groschen und ich sagte: „Die müssen das alle aufschreiben, so frisch noch und nicht durch Erinnerungen, durch Erzählen verfälscht, also grad aus dem Erleben heraus aufschreiben.“ Das haben sie dann auch alle gemacht. Und wir haben auf diese Weise etwa 300 Gedächtnisprotokolle gesammelt von Leuten, die gerade noch dieses ganz frische Erleben auch des Misshandeltwerdens, des Zugeführtwerdens, die Angst der anderen noch in sich trugen und aufgeschrieben haben. Das waren wichtige Dokumente, die dann später noch einmal politisch sehr wichtig wurden, weil wir mit ihnen beweisen konnten, dass das eine Aktion war, die staatlicherseits angeordnet, geplant war und auch an mehreren Stellen der Stadt gleichzeitig losging. Das war wichtig, weil SED und Polizei später dann versucht hatten, das als einzelne Übergriffe, als Ausrutscher oder so etwas darzustellen. Wir konnten das Gegenteil beweisen.
Marianne Birthler auf www.jugendopposition.de
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft