Abschrift
Moderator:
„Was ist denn nun heute Abend passiert?“
Jochen Lässig (telefonisch aus Leipzig):
„In der Nikolaikirche trafen sich wie jeden Montag viele Bürgerrechtler und Ausreiser oder Menschen, die am politischen Leben der DDR interessiert sind, zu einer Friedensandacht. Die Kirche war überfüllt, und während des Gottesdienstes sammelte sich an dem Vorplatz etwa noch mal die gleiche Menschenmenge, die in der Kirche war. Also, es waren in der Kirche 2.000 und auf dem Nikolaikirchplatz auch etwa 2.000 Menschen versammelt. Nach dem Gottesdienst, in dem es … Den Gottesdienst hatte die Gruppe Menschenrechte Leipzig gestaltet. Pfarrer Wonneberger klagte beim Staat einen gewaltfreien Umgang mit den Bürgern ein. Gewaltfreie Demonstrationen sollten vom Staat nicht durch repressive Maßnahmen unterdrückt werden. Bürgerrechte wurden eingeklagt, wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. In der Kirche bereits wurde gemeinsam das Lied We Shall Overcome` gesungen.
Nach der Kirche vergrößerte sich die Anzahl der versammelten Menschen bereits auf dem Nikolaikirchplatz etwa auf 5.000. Die Menge zog eine halbe Stunde später in Richtung Karl-Marx-Platz los. Die Polizeisperren riegelten diesmal den Nikolaikirchhof nicht ab. Sie standen bereit, aber haben die Absperrung nicht geschlossen. So kam eine Menschenmenge von etwa 5.000 bis 8.000 Menschen – die vergrößerte sich ständig, diese Menschenmenge – auf den Karl-Marx-Platz. Dort begannen auch Sprechchöre und Gesänge. Da wurde die Genehmigung des Neuen Forums gefordert in lautstarken gemeinsamen Sprechchören, es wurde die Internationale` gesungen, We Shall Overcome` und der Ausspruch der Französischen bürgerlichen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit` gerufen. Die Menschenmenge zog auf dem Hauptverkehrsring der Stadt zur Hauptpost, auf dem Georgiring zum Bahnhof. Die ganze Breite des Ringes wurde durch Demonstranten eingenommen. Der Verkehr ist angehalten worden, die Straßenbahnen und Autos mussten ihre Fahrt unterbrechen.
Am Bahnhof kam es dann zu ersten Zuführungen, sehr brutal. Etwa schätzungsweise 50 Leute wurden auf LKWs verladen. Eine große Menschenmenge flüchtete sich in den Bahnhof und sprach dort in einer Halle weiter Sprechchöre, auch wieder die Forderung nach der Genehmigung des Neuen Forums. Von anderen Augenzeugen wird berichtet, dass sich der Demonstrationszug weiter auf dem Tröndlinring bewegt hat in Richtung Hotel International`.
Wie die ganze Sache ausgegangen ist, kann zur Stunde noch nicht gesagt werden. Die Hauptmenge hat sich inzwischen aufgelöst. Es ist aber nicht bekannt, ob noch weitere Menschen zusammen sind und ob es noch zu weiteren Zuführungen heute kommen wird.“
Moderator:
„Lässt sich denn sagen, wie viel Leute zugeführt wurden?“
Jochen Lässig:
„Schätzungsweise 50 Leute bis jetzt. Aber man kann das immer erst einen Tag später sagen, weil es sein könnte, dass unabhängig von der Hauptmenge an anderen Orten noch Leute verhaftet werden.“
Moderator:
„Und wie viel Polizeikräfte wurden eingesetzt?“
Jochen Lässig:
„Es ist nicht zu übersehen – sie wurden an sehr verschiedenen Stellen eingesetzt –, vielleicht 200 bis 500. Aber es ist sehr schwer zu schätzen, weil sie nicht an einer Stelle eingesetzt sind, sondern an ganz verschiedenen Punkten in der Stadt mit immer jeweils fünf bis zehn LKWs bereitstehen und die Demonstranten erwarten. Aber die Polizeimenge war nie zusammen an einem Ort und war auch so gering, die Polizeimenge, dass der Demonstrationszug nicht aufgehalten werden konnte.“
Moderator:
„Kam es denn zu Schlagstockeinsätzen?“
Jochen Lässig:
„Davon ist nichts bekannt. Die Leute wurden … die Arme werden verdreht und mit dem Gesicht zur Erde in die LKWs geführt.“
Moderator:
„Und wie war denn die Reaktion oder die Beteiligung der Bevölkerung?“
Jochen Lässig:
„Sehr viele solidarisierten sich spontan. Eine große Zahl von Passanten schloss sich dem Demonstrationszug an, Autos blieben stehen, sie sangen aus den Autos heraus die Internationale` mit oder We Shall Overcome`. Und eine sehr große Zahl von Schaulustigen hat sich an einer Fußgängerbrücke und an den Bürgersteigen versammelt, um dem Demonstrationszug zuzusehen.“
Moderator:
„Nun gab es ja früher bei den Demonstrationen immer die Frage, sind es Ausreiser oder sind es diejenigen, die da Opposition im Lande selber machen wollen. Wie war das denn heute?“
Jochen Lässig:
„Heute war das erste Mal eine Demonstration, die fast nur von Leuten getragen war, die im Land bleiben. Das war eindeutig an der Art der Sprechchöre zu erkennen. Also der Ruf Wir wollen raus!` ist heute nicht erklungen. Stattdessen wurde das Neue Forum eingefordert, und das spricht ja aus den Herzen derjenigen, die hier im Lande bleiben wollen.“
Moderator:
„Gut, ich danke dir erst mal für den Bericht.“
Quelle: Radio Glasnost, 11. September 1989