Umweltblätter
Ab September 1986 gibt die Umwelt-Bibliothek Berlin (UB) eine Publikation heraus, die zunächst als bloße Hausmitteilung geplant ist und auch entsprechend heißt: „Die Umwelt-Bibliothek. Informationen und Mitteilungen“. Die ersten Ausgaben des Blatts werden in einer Auflage von maximal 150 Stück und mit einer Ormig-Druckmaschine hergestellt. Sie werden zunächst im engeren Bekanntenkreis verteilt.
Ab April 1987 wird die Informationsschrift in „Umweltblätter“ umbenannt und ab Mai wegen wachsender Nachfrage mit Wachsmatrizen vervielfältigt. Bei diesem Verfahren können von einer (schwer zu beschaffenden und kostbaren) Vorlage mehr als 1.000 Blätter abgezogen werden. Die Umweltblätter erscheinen mit dem Vermerk: „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“.
Dabei bedienen sich die Herausgeber eines Paragraphen der staatlichen „Anordnung über das Genehmigungsverfahren“ von 1959, nach dem innerkirchliche Publikationen ohne staatliche Genehmigung erscheinen dürfen. Die Redaktion erhofft sich dadurch einen gewissen Schutz – zumindest beim Drucken. Verteilt werden die Hefte aber auch außerhalb der Kirche. (Über die Herstellung der Umweltblätter berichtet Frank Ebert im Zeitzeugen-Interview.)
Jeden Dienstagabend ist Redaktionssitzung: Andreas Kalk (20), Sarah Jasinszczak (23) und Dorit Krusche (19) sind so oft es geht dabei. Es wird diskutiert, welche Themen im nächsten Heft behandelt werden sollen. Über bereits vorliegende Manuskripte wird meist heftig und kontrovers gestritten. Keiner ist im Schreiben geübt, und manchmal kommen die Beiträge quälend schwer aus der Feder. Wolfgang Rüddenklau, der die Umweltblätter initiiert hat und die meisten Texte für das Blatt schreibt, gibt seine Erfahrungen an die Jüngeren weiter.
Illegaler Journalismus mit kirchlichem Segen
Die Umweltblätter erscheinen alle ein bis zwei Monate und behandeln Themen, die in den staatlichen Medien nicht oder nur ideologisch verdreht vorkommen. Dazu gehören der Umweltschutz, die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten, die Friedensbewegung im eigenen Land sowie andere systemkritische Positionen. Darüber hinaus wird ausführlich über die Aktivitäten der Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen und deren Konflikte mit Staat und Kirche informiert. Somit trägt das Blatt wesentlich dazu bei, dass sich die DDR-Opposition stärker untereinander vernetzt.
In der Nacht zum 25. November 1987 dringen Staatssicherheit und Mitarbeiter des Generalstaatsanwalts in die UB ein. Sie überrumpeln die Drucker, die gerade eine neue Ausgabe der Umweltblätter produzieren. Die Druckmaschinen werden konfisziert und alle Anwesenden, darunter die 22-jährige Uta Ihlow und der 17-jährige Till Böttcher, festgenommen. Die Stasi-Aktion „Falle“ führt zu zahlreichen Protestaktionen in Berlin. Solidaritätsbekundungen für die UB kommen aus dem In- und Ausland. Wegen dieses internationalen Drucks müssen die Verhafteten wenig später freigelassen werden.
Die UB kann ihre Veröffentlichungen bald fortsetzen, auch weil Vervielfältigungsmaschinen und Farbe sowie neueste Technik aus dem Westen gespendet werden. Aus West-Berlin kommt auf verschlungenen Wegen ein Amiga 500 nebst Bildschirm und Nadeldrucker in den Ostteil der Stadt. Allerdings hat nur einer, der 20-jährige Martin Schramm, die nötigen technischen Kenntnisse, um den Computer zu bedienen.
Martin Schramm weist ein halbes Dutzend Oppositionelle in die Bedienung ein. Nach anfänglichem Zögern erkennen alle bald die große Chance der PC-Arbeit: Neben einfacherer Textverarbeitung und besseren Gestaltungsmöglichkeiten fasziniert vor allem der Nadeldrucker. Mit seiner Hilfe können beschädigte Matrizen problemlos ersetzt werden. Auflage und Umfang der Umweltblätter expandieren, und in der UB wird nun auch für andere Gruppen gedruckt. Ein knappes Jahr nach dem Stasi-Einsatz entsteht ein kleiner Untergrundverlag mit angeschlossener Druckerei.
Aus den Umweltblättern wird 1989 der telegraph
Unter den Schriften der DDR-Opposition sind die Umweltblätter, die schließlich monatlich erscheinen, mit Abstand am weitesten verbreitet. Bis zum September 1989 erscheinen insgesamt 32 Ausgaben. In der letzten Ausgabe werden die Positionspapiere und Gründungserklärungen aller neu entstandenen Bürgerbewegungen und Parteien veröffentlicht. Es werden 4.000 Exemplare verteilt, die von Hand zu Hand weiterwandern. Als sich im Herbst 1989 die Ereignisse überschlagen, reicht eine Monatszeitschrift nicht mehr aus.
Die Redaktion reagiert am 10. Oktober 1989 mit der Herausgabe des ersten telegraph, dem Nachfolgeblatt der Umweltblätter. Mit der Umbenennung wollen die Untergrundredakteure den neuen, aktuellen Charakter der Publikation deutlich machen. Die zweite Ausgabe erscheint schon einen Tag später, die dritte am 15. Oktober, jeweils in einer Auflage von mehreren Tausend Exemplaren.
Für die Zeit bis zum Dezember 1989 ist der telegraph das einzige unabhängige Medium in der DDR, das über die Friedliche Revolution berichtet. In der Redaktion arbeiten neben Wolfgang Rüddenklau und Tom Sello der frühere Herausgeber des grenzfalls, Peter Grimm (24), sowie Dirk Teschner (25) und Dietmar Wolf (25).
Zitierempfehlung: „Umweltblätter“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Juli 2019, www.jugendopposition.de/145467
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