In Frankfurt/Oder, das in direkter Nähe zur polnischen Grenze liegt, leben viele Angehörige der Grenztruppen der DDR mit ihren Familien. Der 1964 geborene Michael Heinisch, wie er damals heißt, ist als Pfarrerskind bei den Eltern seiner Freunde nicht gerne gesehen und darf viele deshalb nicht zu Hause besuchen. Anders verhält es sich in seinem eigenen Elternhaus. Als Pfarrhaus steht es allen offen und Oppositionelle aus der ganzen Stadt treffen sich dort, um zu diskutieren.
"Ein Freund, von dem man seinen Eltern zu Hause nicht erzählen durfte"
Michael Heinisch ist auf Grund seines christlichen Hintergrunds nicht Teil der DDR-Jugendorganisationen. Anders als seine Mitschülerinnen und Mitschüler nimmt er nicht an den Treffen von Jungpionieren und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) teil. Seine Lehrer und Lehrerinnen lassen ihn spüren, dass sie mit dieser Entscheidung nicht einverstanden sind. So wird Michael Heinisch im Gegensatz zu Anderen in der Schulöffentlichkeit beispielsweise nicht für besondere Leistungen gelobt. Manche Lehrer betonen vor der Klasse, dass Michael Heinisch aufgrund seines Kirchenhintergrundes "anders" und kein guter Umgang sei.
Freunde und Gleichgesinnte findet Michael Heinisch in der Jungen Gemeinde (JG). Dort lernen die Jugendlichen viel über Friedens- und Umweltthemen, die im sozialistischen Schulunterricht anders oder gar nicht thematisiert werden. Michael Heinisch ist Feuer und Flamme für die Ideen der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Stolz trägt er daher den Aufnäher mit dem Bibelzitat "Schwerter zu Pflugscharen", das Symbol der Friedensbewegung in der DDR, auf seinem Parka. Bei einem Spaziergang durch die Frankfurter Innenstadt wird er von Volkspolizeibeamten aufgefordert, den Aufnäher sofort zu entfernen. Nachdem er sich weigert dies zu tun, verbringt Michael Heinisch seine erste Nacht im Gewahrsam der Volkspolizei. Am nächsten Morgen schneiden die Beamten das Emblem aus Michael Heinischs Parka. Erlebnisse wie diese lassen Michael Heinisch mehr und mehr am politischen System der DDR zweifeln.
"Dienst an der Waffe? – Nicht für diesen Staat!"
Die Möglichkeit den Wehrdienst zu verweigern ist in der DDR nicht vorgesehen. Jeder männliche DDR-Bürger soll seinen Beitrag zur Verteidigung ihres sozialistischen Vaterlandes leisten. Michael Heinisch sieht nicht ein, sich für das Land einzusetzen, dessen Vertreter ihn drangsalieren und auf Grund seiner Meinung unterdrücken. Auch der Dienst als Bausoldat kommt für ihn nicht in Frage. Auf die Verweigerung des Wehrdienstes steht in der DDR faktisch eine Gefängnisstrafe. Da es dem internationalen Ruf des selbsternannten Friedensstaates DDR jedoch schaden würde, tausende junger Menschen wegen der Verweigerung des Wehrdienstes ins Gefängnis zu sperren, ereilt diese Strafe in den achtziger Jahren nur noch wenige. Michael Heinisch muss sich halbjährlich beim Wehrkreiskommando melden. Am Ende bleibt ihm die angedrohte Freiheitsstrafe erspart.
Später schließt sich Michael Heinisch dem Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer an, in dem sich eine bunte Gruppe junger Männer für die Interessen derjenigen einsetzt, die ähnlich wie Michael Heinisch keinen Dienst mit der Waffe leisten wollen. Denn auch wenn die jungen Männer wegen ihrer Verweigerung nicht ins Gefängnis müssen, sind sie praktisch von der DDR-Gesellschaft ausgeschlossen. Eine Ausbildung oder ein geregeltes Arbeitseinkommen sind ihnen oft nur in kirchlichen Einrichtungen möglich.
"Wenigstens ein Gebet muss doch abgedruckt werden dürfen!"
1983 beginnt Michael Heinisch der bei der Stephanus-Stiftung in Berlin-Weißensee eine kirchliche Ausbildung zum Sozialdiakon. Durch diese Arbeit kommt Michael Heinisch mit vielen unangepassten Jugendlichen in Kontakt. Darunter Skinheads, Punks und viele andere Anhänger jugendlicher Subkulturen, die nicht in das Ideal eines sozialistischen Staatsbürgers passen.
Im Oktober 1988 nimmt Michael Heinisch erstmals an einer Demonstration teil. Grund dafür ist, dass nach Prüfung der Nummer 40/88 der regionalen Kirchenzeitung für Berlin-Brandenburg "Die Kirche", durch das DDR-Presseamt zwei vermeintlich staatskritische Gebete nicht veröffentlicht werden dürfen. Aus Protest gegen die staatlichen Streichungen bleiben diese Stellen in der neuesten Ausgabe leer. Damit ist die Zensur öffentlich und für jeden sichtbar. "Wenigstens Gebete müssen doch noch gedruckt werden dürfen! Uns reicht‘s, wir gehen demonstrieren!", denken sich Micha und viele andere. Sie wollen dem Staatsrat einen Brief überbringen, in dem sie die Abschaffung der Zensur fordern. Das Gelände des Konsistoriums der evangelischen Kirche in der Neuen Grünstraße, in der die Demonstration am 10. Oktober 1988 beginnen soll, ist durch Sicherheitskräfte umstellt. Dank eines beherzten Sprungs über eine Mauer schafft es Michael Heinisch auf das abgesperrte Gelände zu den wenigen Freundinnen und Freunden zukommen, die sich schon vorher versammeln konnten. Kurz nachdem der Demonstrationszug die Grundstücksgrenze des Konsistoriums überschreitet, stoppen Beamte der Volkspolizei und Mitarbeiter der Staatssicherheit den Zug. Michael Heinisch wird zusammen mit den anderen auf LKW verladen und muss die Nacht im Gefängnis verbringen. In der folgenden Zeit enden viele Demonstrationen für Michael Heinisch mit einem eintägigen Aufenthalt in einer Zelle, und die Staatssicherheit ist fortan sein ständiger Begleiter.
OV "Protestant"
Eines Tages überrascht Michael Heinisch einen Stasi-Beamten, wie dieser gerade seine Wohnung durchsucht. Michael Heinisch fragt, wie er denn in die Wohnung gekommen sei. Der Stasi-Beamte erwidert nur: "Ich habe einen Schlüssel." Die Überwachung durch die Staatssicherheit gehört in dieser Zeit für Michael Heinisch zum Alltag. Meist, wenn er abends in seine Wohnung kommt, führt ihn der erste Weg zu seinem Badeofen, den er eigentlich für das Erhitzen von Badewasser nutzt. Dort verbrennt er aus Vorsicht vor der Verfolgung der Staatssicherheit und um andere zu schützen potentiell verdächtiges Material aus seinen Taschen. Die Staatssicherheit dokumentiert seine Taten im Operativen Vorgang "Protestant".
Durch seine Arbeit als Jugenddiakon in Berlin-Lichtenberg hat Michael Heinisch Zugang zu einer Druckmaschine, einen eigenen Dienstwagen und einen Schlüssel zu den Räumen der Erlöserkirche. Für jeden, der für seine unabhängige Oppositionsarbeit einen Raum braucht, öffnet Michael Heinisch die Erlöserkirche oder stellt die Druckmaschine zur Verfügung. Das tut er oft, ohne sich die Genehmigung der Kirchengemeinde einzuholen. Bevor diese reagieren kann, haben die Veranstaltungen meistens schon begonnen.
Mit dem Weißenseer Friedenskreis beteiligt sich Michael Heinisch an der Aufdeckung der Kommunalwahlfälschung vom 7. Mai 1989. Er und seine Freunde demonstrieren nun an jedem Siebenten eines Monats für freie Wahlen. Außerdem solidarisiert er sich in verschiedenen Aktionen mit der chinesischen Demokratiebewegung und öffnet für die Aktion "Trommelfasten für die Opfer der Gewalt in China" beispielsweise die Türen der Erlöserkirche. Im September 1990 gehört er außerdem zu den Besetzerinnen und Besetzern, die unter dem Motto „Die Akten gehören uns!“ die ehemalige Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg besetzen.
Noch im Herbst 1989 beschließt Michael Heinisch, sich zukünftig vorrangig auf die sozialdiakonische Arbeit zu konzentrieren und engagiert sich seitdem in diesem Bereich.
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Dann ging es ja sehr um die Frage mit dem Wahlbetrug. Da wusste man ja noch nicht, dass es Wahlbetrug werden würde. Sondern es ging einfach um die Beschäftigung mit den Kommunalwahlen in der DDR. Das war 1989. Wir haben uns damit beschäftigt im Friedenskreis und dann entstand sehr schnell die Idee. In Weißensee gibt es eine Anzahl Wahllokale. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele es waren, 20 oder 18 oder irgendwie so was. Und das ist ja nicht so schwer. Guck mal, wie viele Leute hier im Raum sind. Wenn zwei von uns jeweils in ein Wahllokal gehen, dann kann man auch einfach die Auszählung mitzählen. Dann legen wir das einfach mal zusammen und gucken mal nach, ob die Zustimmung zur DDR tatsächlich so hoch ist, wie immer in den Medien steht. Das kann ja nicht so schwer sein. Nun ist das Wahlsystem ja ohnehin völlig unsinnig gewesen. Es gab nur eine Liste, die vorgegeben war und man hatte ja bei der Wahl nur die Möglichkeit, entweder diese Liste ganz zu wählen oder Einzelpersonen davon zu streichen, was aber nicht zur nicht dazu führte, dass die anderen dann nicht gewählt worden wären oder so, man konnte auch keine anderen Leute wählen. Völlig unsinniges System, aber immerhin. Wir glaubten einfach vorher nicht, dass es tatsächlich so ist, dass 99 Komma keine Ahnung was Prozent der Bevölkerung zur Wahl gehen. Diese Unsinns-Aktion tu würden, eine vorgegebene Liste in einen Schlitz zu stecken und da auch nicht streichen. Irgendwas stimmt da nicht. Da kann man doch einfach mal nachzählen. Dann haben wir eine valide Zahl. So der Gedanke. Das war auch relativ schnell eigentlich eingeteilt. Die zwei gehen dahin, die zwei gehen dahin. Es war ja völlig klar 18:00 Uhr schließen die Wahllokale, dann geht man da 18:00 Uhr hin und zählt einfach mit. Das haben wir auch gemacht. In ganz Weißensee haben wir, außer aus ein oder zwei Wahllokalen, die Zahlen zurückbekommen. Hätte ich gar nicht gedacht, dass von uns ungefähr 40 Menschen tatsächlich alle so verlässlich agieren. Ich war da auch. Ich bin dann in ein Wahllokal mit jemand anders in einer Schule in der Langhansstraße nach 18:00 Uhr rein. Und natürlich war die Aktion bekannt. Die Staatssicherheit war vor Ort. Und dann hieß es: Was, wo wollen Sie denn hin? Na ich will zur Auszählung. Der Raum ist zu klein. Der ist schon voll. Es muss doch möglich sein. Der ist öffentlich. Irgendwie bin ich dann da in den Raum und durfte da tatsächlich sein. Dann war da der Wahlleiter, der das Wahlbüro unter sich hatte. Der sagte dann auch: ja, wir wissen, hier kommen auch Leute von den Bürgern, die wollen mitzählen. Das soll doch da noch möglich sein. Der war ganz nett. Dann ging die Stasi-Leute so ein Stück zurück und ich durfte da auch sitzen mit dem anderen zusammen und hatte so einen Zettel mit. Dann haben die da die Wahlurnen ausgegossen und haben die Zettel ausgeschüttet auf den Tisch und haben davon mal zehn hoch gezeigt. "Keine Änderung, keine Änderung." Sie hatten immer Zehner Stapel gemacht und tatsächlich konnte ich mich melden und sagen: "Könnt ich mal den Zehner Stapel noch mal sehen? Ich glaube das waren nur acht." Und "Natürlich", sagte der Wahlleiter und dann: "Doch tatsächlich! Ach, gut, dass sie da sind, tun wir doch zwei drauf." So waren es wieder zehn. Sie haben auch Zettel hoch gezeigt, wo offensichtlich was durchgestrichen war und haben gesagt "keine Änderung". Und haben es auf den Stapel gelegt. Da habe ich mich dann auch mehrmals gemeldet und habe gesagt: "Könnten wir das noch mal gucken? Ich glaube da ist Ihnen was entgangen." "Ach, tatsächlich gibt es da ein nein, das passiert ja auch mal!" Dann hat er es auf den anderen Stapel getan. Und dann habe ich meine Wahlergebnisse mitgenommen und wir haben das abends zusammengetragen. 21:00, 22:00 Uhr haben wir alles untereinander geschrieben und stellten fest: Wir hatten sehr viel geringere Zustimmungswerte. Also sowohl die Wahlbeteiligung war zwar über 80 %, aber nicht 99 Komma irgendwas. Aber auch die Zahl derer, die den Zettel verändert hatten, war deutlich größer als offiziell immer angegeben. Und ich dachte: Na ja, gucken wir doch mal, ob das jetzt vielleicht nur in Weißensee ist. Am nächsten Morgen kauft man die Zeitung und liest, auch in Weißensee die Zustimmung wieder bei 99 Komma irgendwas Prozent und stimmt aber nicht mit unserem nachgezähltem im Ergebnis überein.