grenzfall
Ost-Berlin 1986: Unter der Hand wird ein kleines Bündel gewölbter Fotoabzüge weitergereicht. Neun Fotos mit einer Heftklammer zusammengehalten, jedes einzelne Blatt mit enger Schrift und Karikaturen gefüllt. Es ist die erste Ausgabe des grenzfalls, die in einer Startauflage von 50 Exemplaren kursiert.
Darin fordert die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) im UNO-Jahr des Friedens 1986 demokratische Veränderungen in der DDR. Sie solidarisiert sich mit der polnischen Friedensgruppe Freiheit und Frieden (Wolnosc i Pokoj), die in Polen für die Einhaltung von Menschenrechten kämpft und einen Zivildienst für Wehrdienstverweigerer fordert. Im Beitrag „Nach Tschernobyl“ wird eine Volksabstimmung zum weiteren Umgang mit der Atomenergie verlangt. Diese Forderung löst kontroverse Diskussionen in oppositionellen Kreisen aus.
Mitglieder der IFM wollen den grenzfall auf der kirchlichen Friedenswerkstatt 1986 präsentieren, was Generalsuperintendent Günter Krusche zu verhindern weiß. Die Kirchenleitung ist um ein gutes Verhältnis zum Staat bemüht und duldet deshalb kein oppositionelles Sprachrohr unter ihrem Dach.
Nachdem die ersten drei Ausgaben des grenzfalls noch unregelmäßig erscheinen, schaffen die Macher es, das Blättchen ab 1987 regelmäßig einmal im Monat herauszubringen. Um eine höhere Auflage zu erreichen, wird es inzwischen mit Ormig-Druckmaschinen vervielfältigt. Die Themen im Blatt behandeln Menschen- und Bürgerrechtsprobleme in der DDR und anderen kommunistischen Ländern. Die Redakteure bereiten die Inhalte als Meldungen, Hintergrund- oder Augenzeugenberichte auf. Das Signet des Blatts zeigt einen morschen Schlagbaum, aus dem Zweige sprießen.
Riskant für Macher und Leser: Infos aus dem Untergrund
Der grenzfall entwickelt sich zu einer der bekanntesten Untergrundpublikationen und kommt bewusst ohne kirchliche Unterstützung aus. Das wirkt sich erfrischend auf den Inhalt aus und senkt den Hang zur Selbstzensur. Als der grenzfall im August 1987 in einer Kontraste-Sendung (ARD) vorgestellt wird, erfahren Millionen in Ost und West von der Existenz des Blattes. Initiiert hat das Ganze der aus der DDR ausgebürgerte Oppositionelle Roland Jahn.
Kern der ersten Redaktion sind Peter Rölle und Peter Grimm, beide Jahrgang 1965. Unter ihrer Verantwortung erscheinen insgesamt 15 Hefte und ein Flugblatt. (Über die Herstellung des grenzfalls berichtet Peter Grimm im Zeitzeugen-Interview.)
Unterstützt wird die grenzfall-Redaktion von westlichen Journalisten, die in der DDR akkreditiert sind, zum Beispiel Ingomar Schwelz von Associated Press und Spiegel-Korrespondent Ulrich Schwarz. Über die beiden hält Ralf Hirsch (27) aus der IFM den Kontakt nach West-Berlin zu Roland Jahn, der Druckfarbe und Matrizen besorgt. Die Journalisten, die aufgrund ihres Status unkontrolliert die Grenze passieren können, schmuggeln das Material in die DDR.
Bereits in der Ausgabe 1/87 rufen die Herausgeber des grenzfalls ihre Leser zur Mitarbeit am Blatt auf. Mit den folgenden Heften erhöht sich die Auflage stetig, nach einiger Zeit sind es 800 Exemplare. Der Umfang wächst auf 15 bis 20 Seiten. Erst als ein Wachsmatrizengerät aus dem Westen besorgt werden kann, wird die Herstellung einfacher. Sie bleibt aber immer wieder eine besondere Herausforderung, da feste Räumlichkeiten für den Druck fehlen.
Erst in der siebten Ausgabe, der Nummer 4/87, geben sich die Herausgeber als Mitglieder der IFM zu erkennen. Die Autoren bleiben aus Sicherheitsgründen anonym. Einzelne Aufrufe und Beiträge sind jedoch namentlich gekennzeichnet.
Westjournalisten schmuggeln Farbe und Matrizen in die DDR
Um sich vor staatlichem Zugriff zu schützen, sollen nur die Hersteller wissen, wo und wann gedruckt wird. Doch es sitzt ein Spitzel im unmittelbaren Umfeld der Redaktion, sodass die Stasi oft bestens informiert ist. Der grenzfall wird meist in Privatwohnungen hergestellt, einzelne Ausgaben werden in der Umwelt-Bibliothek (UB) Berlin vervielfältigt. In der Nacht zum 25. November 1987 soll eine neue Ausgabe des grenzfalls gedruckt werden. Das Ministerium für Staatssicherheit bekommt Wind davon. Es will die Redakteure und Drucker auf frischer Tat ertappen. Bei diesem Einsatz, der unter dem Decknamen Aktion „Falle“ läuft, werden sieben Mitglieder der UB festgenommen.
Danach erscheinen in Berlin noch zwei Ausgaben des grenzfalls: 1988 eine Nummer unter der Verantwortung von Bärbel Bohley und Reinhard Weißhuhn. Beim letzten Heft ist Reinhard Weißhuhn der alleinige Herausgeber. Beteiligt ist der 22-jährige Steffen Steinbacher, der sich um die Abschrift der Manuskripte auf Matrizen und um den Druck kümmert. 1986 bis 1989 erscheinen insgesamt 17 Ausgaben des grenzfalls in Berlin. Eine weitere erscheint 1989 in Thüringen, erstellt von einer Redaktion der IFM in Suhl.
Zitierempfehlung: „grenzfall“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145466