„Hoch Dubcek!“ – Kinder von Berliner Intellektuellen protestieren
Ab etwa 1965 bildet sich ein Freundeskreis von Berliner Oberschülern und Studierenden. Einige von ihnen sind Kinder von prominenten Intellektuellen und hohen SED-Funktionären. In der Schule, an der Universität oder im Alltag verhalten sie sich provozierend. Die jungen Leute treffen sich unverhohlen in bekannten Kaffeehäusern im Zentrum von Berlin. Der Kreis hat nichts Verschwörerisches an sich, er steht allen Interessierten offen.
Zur Gruppe gehören Rosita Hunzinger und Erika Berthold, die gemeinsam die Schule besuchen. Im Sommer 1968 sind beide 18 Jahre alt. Rosita Hunzinger ist die Tochter der bekannten Bildhauerin Ingeborg Hunzinger, deren Haus am Rande von Berlin ein beliebter Treffpunkt der intellektuellen Szene aus Ost und West ist. Erika Berthold ist die Tochter von Professor Lothar Berthold, dem Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus (IML) beim Zentralkomitee der SED. Sie hat ein Liebesverhältnis mit dem 18-jährigen Frank Havemann, dem Sohn des von der SED gemaßregelten Professors Robert Havemann. Der Professor für Chemie lebt seit seiner Entlassung vom Lehramt in Grünheide außerhalb von Berlin.
Kinder von Berliner Intellektuellen werden aufsässig
Zu dem Kreis gehören auch der 23-jährige Student Thomas Brasch, ein angehender Dichter und Sohn des stellvertretenden Kulturministers. Außerdem mit von der Partie: die 20-jährige Studentin Sanda Weigl und der 18-jährige Hans-Jürgen Uszkoreit, der die Schule abgeschlossen hat und in einem Betrieb arbeitet.
Der Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 in die Tschechoslowakei trifft die Jugendlichen tief und unvorbereitet. Spontan beginnen sie mit unkoordinierten Widerstandsaktionen. Zu diesem Zeitpunkt hat sie das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) längst im Visier.
Noch am Abend des 21. August 1968 schreiben Frank Havemann und Hans-Jürgen Uszkoreit „Dubcek“ an vier Häuserwände, denn Alexander Dubcek, Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der CSSR (KPC), ist die Symbolfigur des Prager Frühlings. Außerdem verteilen sie 45 Flugblätter mit dem Lied von Wolf Biermann: „In Prag ist Pariser Kommune“.
Im Laufe des 22. August stellen Thomas Brasch, Rosita Hunzinger, Erika Berthold und Sanda Weigl rund 500 handgeschriebene Flugblätter her: „Warschauer Vertrag raus aus Prag!“, „Es lebe das rote Prag!“, „Hoch Dubcek!“. Ihre Losungen verteilen sie in der Nacht in Telefonzellen und Hausbriefkästen.
„Hoch Dubcek!“: Gefährliche Solidarität mit Prag
Am nächsten Tag kommt es zu ersten Verhaftungen. An der Aktion beteiligen sich noch andere Jugendliche, deren Tatbeteiligung aber geringer eingeschätzt wird. Sie werden zwar mehrfach zu Vernehmungen beim MfS einbestellt, aber nicht angeklagt.
In der Nacht auf den 24. August setzt die Freundin des bereits verhafteten Thomas Brasch, Bettina Wegner, die Flugblattaktion fort. Sie wird ebenfalls verhaftet. (Im Zeitzeugen-Video berichtet Bettina Wegner über diese turbulenten Zeiten.)
Es kommt zur Verhandlung, an der ausgewählte Vertreter der Bildungseinrichtungen und Arbeitsstellen der Angeklagten teilnehmen – und natürlich Mitarbeiter des Parteiapparats und des MfS. Auch die Eltern der Jugendlichen sitzen im Gerichtssaal. Verhandelt werden jedoch kaum die „Taten“, denn deren strafrechtliche Relevanz ist schwer zu begründen. So ist Alexander Dubcek, dessen Namen die Angeklagten an Häuserwände geschrieben haben, zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung immer noch Vorsitzender der tschechoslowakischen Bruderpartei und wird in Moskau mit allen Ehren empfangen. Vor Gericht werden lange Gutachten verlesen, die den staatsfeindlichen Charakter der Gedichte Wolf Biermanns und der Auffassungen von Robert Havemann beweisen sollen.
Prominentenkinder: Freiheitsentzug, Einweisung, Repressionen
Am 21. und 22. sowie am 24. und 25. Oktober 1968 findet vor dem Strafsenat des Stadtgerichts Groß-Berlin die Hauptverhandlung statt. Am 28. Oktober 1968 ergehen folgende Urteile: Die Angeklagten Thomas Brasch und Rosita Hunzinger werden zu jeweils zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Sanda Weigl bekommt zwei Jahre, Erika Berthold ein Jahr und zehn Monate, Frank Havemann ein Jahr und sechs Monate, Hans-Jürgen Uszkoreit ein Jahr und drei Monate. Für den minderjährigen Florian Havemann wird die Einweisung in ein Jugendhaus beantragt.
Am 7. November 1968, dem Tag des Strafantritts, wird den Verurteilten Hans-Jürgen Uszkoreit, Sanda Weigl und Erika Berthold mitgeteilt, dass ihre Haftstrafe in Bewährung umgewandelt wird. Am 11. und 12. November 1968 erhalten die noch in Haft befindlichen Verurteilten Thomas Brasch, Rosita Hunzinger und Frank Havemann die Mitteilung, dass ihre Haftstrafen ausgesetzt werden. Sie werden alle aus dem Gefängnis entlassen.
Die Aktionen der Prominentenkinder werden durch die Westmedien bekannt. Zu Recht wird ihr Protest als die Spitze eines Eisbergs gesehen: Allein in Ost-Berlin registriert das MfS 389 Flugblattaktionen mit insgesamt 3.528 Flugblättern sowie 272 Losungen gegen den Einmarsch in die CSSR. In diesen Monaten werden zahlreiche junge Menschen verhaftet. Trotz drohender Schulentlassungen und Universitätsverweise weigern sich viele Mitschüler und Kommilitonen, die „konterrevolutionären Aktionen“ zu verurteilen.
Um die Wogen etwas zu glätten, tritt die SED-Führung ab Ende Oktober 1968 nachgiebiger auf. Sie fürchtet, die Söhne und Töchter aus der SED-Führungsschicht mit zu harten Reaktionen dauerhaft ins gesellschaftliche Abseits zu drängen.
Mehrheitlich sind an den Aktionen um den Prager Frühling jedoch keine Prominentenkinder beteiligt, sondern Lehrlinge und Jungarbeiter, die nicht durch westliche Medien oder ihre Eltern geschützt sind.
Zitierempfehlung: „„Hoch Dubcek!“ – Kinder von Berliner Intellektuellen protestieren“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145443
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