Meinungsfreiheit ist in der Verfassung der DDR zwar festgeschrieben, die Realität sieht aber anders aus. Die ideologische Formung der Kinder und Jugendlichen im Sinne der SED ist erklärtes Ziel der DDR-Volksbildung. Diesen Drill in Frage zu stellen bedeutet, das Machtmonopol der Parteiführung zu untergraben. Und das ist gefährlich.
Abiturienten der Carl-von-Ossietzky-Schule in Berlin-Pankow erfahren dies im Oktober 1988 am eigenen Leib. Sie hängen Beiträge an die Wandzeitungen ihrer Schule, auf denen sie sich ihre eigenen Gedanken über die Streiks in Polen und den Unsinn der jährlich stattfindenden DDR-Militärparaden machen. Zudem organisiert einer der Schüler eine Unterschriftenaktion bei Eltern und Schülern, um gegen die Militärparade zum DDR-Jubiläum am 7. Oktober 1988 zu demonstrieren. Diese Aktionen werden aufmerksam von der Schulleitung verfolgt. Nach der Unterschriftenaktion greift sie hart durch.
Die beteiligten acht Schüler werden vor ein Schultribunal geladen. Kai Feller, Katja Ihle, Philipp Lengsfeld und Benjamin Lindner werden von der Schule geworfen, zwei weitere werden umgeschult, zwei erhalten Verweise. Sie müssen Befragungen, außerordentliche Schulversammlungen und Diffamierungen vor ihren Klassen über sich ergehen lassen. Drei von ihnen werden zudem aus der Freien Deutschen Jugend (FDJ) ausgeschlossen.
Der Vorwurf: Ihr Verhalten sei „antisozialistisch“, sie betrieben „verräterische Gruppenbildung“ und bildeten eine „pazifistische Plattform“. Der Rauswurf der vier Schüler bedeutet zugleich, dass sie kein Abitur mehr ablegen dürfen. Trotz Einspruchs der Eltern und mutiger Kritik einiger Mitschüler bleiben die Urteile bestehen. In alter SED-Tradition werden auch unter der Bildungsministerin Margot Honecker in der Schule abweichende Meinungen nicht gestattet.
SED wie eh und je: Schüler müssen die Klappe halten
Dem Druck von Lehrern und Direktor, von Stasi und FDJ können viele der Abiturienten, die sich mit den acht Schülern solidarisieren, nicht standhalten. Sie ziehen ihre Unterschriften gegen die Militärparaden zurück und lassen sich, wie die meisten Lehrer und Eltern auch, von den Drohgebärden einschüchtern. Viele distanzieren sich öffentlich von ihren Mitschülern.
Solidarität erfahren die acht nonkonformen Schüler durch die oppositionellen Gruppen. Schon am 16. Oktober 1988 berichtet die Berliner Umwelt-Bibliothek (UB) über die Vorgänge und sorgt für die Verbreitung der Nachricht von den Ereignissen an der Pankower Schule. Wenige Tage später entwirft der 21-jährige Andreas Kalk gemeinsam mit Freunden aus der UB und anderen Gruppen ein Flugblatt, in dem die Ungerechtigkeiten zusammengefasst werden. Am nächsten Tag liegen 3.000 Flugblätter zum Verteilen bereit, hergestellt in der Druckerei der UB. Neben Uta Ihlow (23) und Till Böttcher (18) steht das erste Mal Frank Ebert (18) an der Druckmaschine. Ausführlich berichten die Umweltblätter in der Dezemberausgabe. Die Schlagzeile lautet: „Das Risiko eine eigene Meinung zu haben“.
Mitarbeiter des Stadtjugendpfarramts Berlin, unter ihnen Marianne Birthler, wenden sich in einem offenen Brief an alle Berliner Kirchengemeinden. Darin informieren sie über die Ereignisse an der Ossietzky-Schule und rufen zu Protesten, Informationsverbreitung und einer allgemeinen Auseinandersetzung mit dem Thema Volksbildung in der DDR auf. In diese Solidaritätsaktionen fließt auch die schon lange existierende Kritik am DDR-Schulsystem ein, am Organisationszwang und an der militärischen Früherziehung.
Unterstützung erhalten die abgestraften Schüler auch aus der Bundesrepublik. Lehrer von Westberliner Schulen senden einen öffentlichen Appell an die Regierung der DDR, um gegen die Repressalien zu demonstrieren. Gerade eine dem Namen des Pazifisten und Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky verpflichtete Schule dürfe nicht gegen engagierte Schüler vorgehen.
Nach der Friedlichen Revolution von 1989 können alle vier der Schule verwiesenen Schüler ihr Abitur nachholen.
Zitierempfehlung: „Ereignisse an der Berliner Ossietzky-Schule“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung November 2022, www.jugendopposition.de/145391
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Es gab ja noch kein Twitter. Das heißt, wir mussten erst mal Schriftstücke zusammenstellen mit Gedächtnisprotokoll etc. Und dann konnte das auch nicht einfach so auf der Straße verteilt werden, sondern es musste gezielt an bestimmte Leute gegeben werden, die das dann in ihrem Umfeld wieder weiter verteilen. Und natürlich war das sehr schnell in Kirchengemeinden rum. Da haben wir zum Beispiel Post bekommen aus der ganzen DDR. Die haben dann auch irgendwann so ein DDR weiten Aktionstag gemacht. Also das war relativ gut koordiniert. Dann gab es zum Beispiel auch die Lehrerinnen, die uns geschrieben haben. Ich weiß nicht, wie die es erfahren haben. Es gab sogar Lehrerinnen, die an Margot Honecker, an die Bildungsministerin, geschrieben haben und sie gebeten haben, das noch mal zu überdenken. Es war sehr große Solidarität, weil alle die Verhältnismäßigkeit dieser Strafe gegenüber diesem relativ harmlosen Äußerungen oder Papieren, die wir da verfasst haben, gesehen haben. Auch Leute, die gar nicht mal unbedingt in der Opposition waren. Und das war, glaube ich, das Neue, dass zum Ersten Mal in der DDR-Geschichte so eine eigentlich alltägliche Geschichte plötzlich so eine große Solidaritätswelle ausgelöst hat, die uns in dem Fall zugute kam, aber die auch gezeigt hat, dass sich dieses Land wirklich verändert hat und dass die Zeit wirklich reif war für einen Systemwechsel.