Wegen ihrer Kritik an der zunehmenden Militarisierung der DDR-Gesellschaft werden Anfang Oktober 1988 vier Schüler von der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Ost-Berlin geworfen. Im Bild: das Schulgebäude. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Siegbert-Schefke/RHG_Fo_HAB_17914
Die "Speakers Corner" im Foyer der Carl-von-Ossietzky Schule im November 1989, ein Jahr nach den Vorfällen um Kai Feller und andere Schülerinnen und Schüler. Quelle: "Ein Rausschmiss - Und nun?", "Klartext" vom 14. November 1989, Deutsches Runfunkarchiv (DRA).
Mit einem Plakat und einer Unterschriftensammlung wenden sich Schülerinnen und Schüler der Carl-von-Ossietzky-Oberschule gegen die Militärparade zum DDR-Jubiläum am 7. Oktober 1988. Das Plakat bringen sie an der "Speakers` Corner der Schule an. 38 Schülerinnen und Schüler unterzeichnen daraufhin den Aufruf. Quelle: Bundesarchiv / Stasi-Unterlagen-Archiv, MfS, BV Berlin, AOP 1224/91, Band 6, Bl. 11
Durch die Unterschriftensammlung und ein dazu gehängtes Gedicht aus der Zeitung "Die Volksarmee" fühlte sich die Schulleitung besonders provoziert und informierte den zuständigen Schulrat. Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 1224/91, Bl. 4
Gedicht eines Soldaten der Nationalen Volksarmee, welches Schülerinnen und Schülern der Karl-von-Ossietzkiy Oberschule an der "Speakers` Corner" veröffentlichen. Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 1224/91, Bl. 5
Das MfS verfolgt bereits einige der Schüler, weil diese bereits am 11. September wärend der "Gedenkkundgebung zur Ehrung der Opfer des Faschismus" selbstgefertigte Plakate gegen nationalistische Tendenzen trugen. Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 1224/91, Bl. 7
Erklärung jener Schüler der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Berlin-Pankow, die wegen ihrer Wandzeitungsbeiträge zu Streiks in Polen und den jährlich stattfindenden Militärparaden in der DDR bestraft wurden (1988). Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft / RHG_Fak_0097 Abschrift
Meinungsfreiheit ist in der Verfassung der DDR zwar festgeschrieben, die Realität sieht aber anders aus. Die ideologische Formung der Kinder und Jugendlichen im Sinne der SED ist erklärtes Ziel der DDR-Volksbildung. Diesen Drill in Frage zu stellen bedeutet, das Machtmonopol der Parteiführung zu untergraben. Und das ist gefährlich.
Abiturienten der Carl-von-Ossietzky-Schule in Berlin-Pankow erfahren dies im Oktober 1988 am eigenen Leib. Sie hängen Beiträge an die Wandzeitungen ihrer Schule, auf denen sie sich ihre eigenen Gedanken über die Streiks in Polen und den Unsinn der jährlich stattfindenden DDR-Militärparaden machen. Zudem organisiert einer der Schüler eine Unterschriftenaktion bei Eltern und Schülern, um gegen die Militärparade zum DDR-Jubiläum am 7. Oktober 1988 zu demonstrieren. Diese Aktionen werden aufmerksam von der Schulleitung verfolgt. Nach der Unterschriftenaktion greift sie hart durch.
Die beteiligten acht Schüler werden vor ein Schultribunal geladen. Kai Feller, Katja Ihle, Philipp Lengsfeld und Benjamin Lindner werden von der Schule geworfen, zwei weitere werden umgeschult, zwei erhalten Verweise. Sie müssen Befragungen, außerordentliche Schulversammlungen und Diffamierungen vor ihren Klassen über sich ergehen lassen. Drei von ihnen werden zudem aus der Freien Deutschen Jugend (FDJ) ausgeschlossen.
Der Vorwurf: Ihr Verhalten sei „antisozialistisch“, sie betrieben „verräterische Gruppenbildung“ und bildeten eine „pazifistische Plattform“. Der Rauswurf der vier Schüler bedeutet zugleich, dass sie kein Abitur mehr ablegen dürfen. Trotz Einspruchs der Eltern und mutiger Kritik einiger Mitschüler bleiben die Urteile bestehen. In alter SED-Tradition werden auch unter der Bildungsministerin Margot Honecker in der Schule abweichende Meinungen nicht gestattet.
SED wie eh und je: Schüler müssen die Klappe halten
Dem Druck von Lehrern und Direktor, von Stasi und FDJ können viele der Abiturienten, die sich mit den acht Schülern solidarisieren, nicht standhalten. Sie ziehen ihre Unterschriften gegen die Militärparaden zurück und lassen sich, wie die meisten Lehrer und Eltern auch, von den Drohgebärden einschüchtern. Viele distanzieren sich öffentlich von ihren Mitschülern.
Solidarität erfahren die acht nonkonformen Schüler durch die oppositionellen Gruppen. Schon am 16. Oktober 1988 berichtet die Berliner Umwelt-Bibliothek (UB) über die Vorgänge und sorgt für die Verbreitung der Nachricht von den Ereignissen an der Pankower Schule. Wenige Tage später entwirft der 21-jährige Andreas Kalk gemeinsam mit Freunden aus der UB und anderen Gruppen ein Flugblatt, in dem die Ungerechtigkeiten zusammengefasst werden. Am nächsten Tag liegen 3.000 Flugblätter zum Verteilen bereit, hergestellt in der Druckerei der UB. Neben Uta Ihlow (23) und Till Böttcher (18) steht das erste Mal Frank Ebert (18) an der Druckmaschine. Ausführlich berichten die Umweltblätter in der Dezemberausgabe. Die Schlagzeile lautet: „Das Risiko eine eigene Meinung zu haben“.
Kritische Fotomontage: Solidarisierung mit den Schülern, die von der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Berlin-Pankow verwiesen wurden. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft / RHG_Fo_HAB_17913
Aufruf zum Aktionstag für die Schüler der Carl-von-Ossietzky-Oberschule (27. November 1988). Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft / RHG_Fak_0916 Abschrift
Die Karl-von-Ossietzky Oberschule kommt nicht zur Ruhe. Die Stimmung an der Schule und im Umfeld der Relegierten Schülerinnen und Schüle ist weiterhin gespannt. Am 3. November 1988 sucht die Polizei den Verursacher einer Parole an der Hauswand der Schule. Quelle: BStU, MfS, AOP 1224/91, Bd. 6, Bl. 29, Bd. 1
Die Karl-von-Ossietzky Oberschule kommt nicht zur Ruhe. Die Stimmung an der Schule und im Umfeld der Relegierten Schülerinnen und Schüle ist weiterhin gespannt. Am 3. November 1988 sucht die Polizei den Verursacher einer Parole an der Hauswand der Schule. Quelle: BStU, MfS, AOP 1224/91, Bd. 6, Bl. 29, Bd. 1
Die Karl-von-Ossietzky Oberschule kommt nicht zur Ruhe: Die Staatssicherheit dokumentiert Parolen an der Schule. Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 1224/91, Bd. 6, Bl. 29, Bild 2
Die Karl-von-Ossietzky Oberschule kommt nicht zur Ruhe: Die Staatssicherheit dokumentiert Parolen an der Schule. Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 1224/91, Bd. 6, Bl. 29
Um die Täter zu überführen, setzt die Staatssicherheit einen Fährtenhund ein. Der Fährtenverlauf um das Schulgebäude wird genau skizziert. Der Fährtenverlauf um das Schulgebäude wird genau skizziert. Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 1224/91, Band 6, Bl. 36
Plakat der Bekenntniskirche Berlin-Treptow für eine Kirchenveranstaltung am 27. November 1988 zu den Ereignissen an der Ossietzky-Oberschule. Quelle: BStU, MfS, HA IX, 2469, Bl. 8
Mitarbeiter des Stadtjugendpfarramts Berlin, unter ihnen Marianne Birthler, wenden sich in einem offenen Brief an alle Berliner Kirchengemeinden. Darin informieren sie über die Ereignisse an der Ossietzky-Schule und rufen zu Protesten, Informationsverbreitung und einer allgemeinen Auseinandersetzung mit dem Thema Volksbildung in der DDR auf. In diese Solidaritätsaktionen fließt auch die schon lange existierende Kritik am DDR-Schulsystem ein, am Organisationszwang und an der militärischen Früherziehung.
Unterstützung erhalten die abgestraften Schüler auch aus der Bundesrepublik. Lehrer von Westberliner Schulen senden einen öffentlichen Appell an die Regierung der DDR, um gegen die Repressalien zu demonstrieren. Gerade eine dem Namen des Pazifisten und Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky verpflichtete Schule dürfe nicht gegen engagierte Schüler vorgehen.
Nach der Friedlichen Revolution von 1989 können alle vier der Schule verwiesenen Schüler ihr Abitur nachholen.
Zitierempfehlung: „Ereignisse an der Berliner Ossietzky-Schule“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung November 2022, www.jugendopposition.de/145391
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Es war einfach nur die Empfehlung, auf die Militärparade am 7. Oktober zu verzichten, mit der Begründung, dass es diese vertrauensbildenden Maßnahmen sind, die zu so einer Abrüstung führen können oder zu einer Entspannung führen können, die möglicherweise historisch ist. Es war gerade wenn man noch mal zurückgeht, der NATO Doppelbeschluss, der ja in Westdeutschland sehr stark umstritten war oder auch von der Friedensbewegung bekämpft wurde, der hatte ja letztlich dazu geführt, dass die Sowjets an den Verhandlungstisch gekommen sind. Und dann wurden diese wirklich weitreichenden Abrüstungsverhandlungen eingeleitet. Und die haben letztlich dazu geführt, dass besonders die Mittelstreckenraketen aus Deutschland verschwinden oder zumindest massiv reduziert werden konnten. Und das war der Ansatzpunkt, dass wir gesagt haben, da würde das doch auch gut reinpassen, wenn die DDR, die ja selber keine Atomwaffen betreibt, dass sie sozusagen ihren Teil dazu beiträgt, zu dieser Entspannung und einfach verzichtet. Nichts weiter. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich jetzt irgendwas hinterm Rücken der Lehrerin mache oder dass ich irgendwas gegen sie mache. Sondern dass ich einfach das Thema aufgreife und weiterentwickle, was sie da in den Raum gestellt hat. Und weil eben auch die Schülerinnen und Schüler da so offen waren zu diskutieren. Es war wirklich etwas, was wahrscheinlich ein paar Jahre zuvor so nicht hätte stattfinden können. Ja, das hat mich natürlich dann auch ermuntert zu sagen: Ach, dann machen wir es doch mal richtig als Unterschriftenliste und dann schicken wir das dahin und dann müssen die irgendwie damit umgehen, dass eben die Jugend irgendwie doch ein bisschen anders denkt als diese alten Herren dort in der Riege. Es waren ja nur wirklich nur Herren. Also ich habe das schon selbst entschieden und habe dann, als ich das vorbereitet habe, dann habe ich mit Leuten gesprochen und habe gesagt: Guck mal hier, ich habe das vorbereitet und könnt ihr ja unterschreiben. Und da haben ja dann auch 1/4 der Schüler unterschrieben. Das war also schon ein kleiner Erfolg, würde ich sagen.