Eine LKW-Kolonne für die Freiheit - Der 17. Juni 1953 in Strausberg
Strausberg ist ein beschauliches Städtchen östlich von Berlin. Doch seit 1952 wird hier viel gebaut. Die DDR rüstet militärisch auf. Sie nimmt allerdings Rücksicht auf den entmilitarisierten Status der Vier-Sektoren-Stadt Berlin. Also entstehen Kasernenbauten außerhalb der Stadtgrenze, z. B. in Strausberg. Den Arbeitern wird gesagt, hier entstehen Altersheime. Warum Posten mit umgehängtem Karabiner die Baustelle bewachen, wird ihnen nicht erklärt. Allein schon deswegen ist die Stimmung unter den Arbeitern gereizt.
Am Abend des 16. Juni 1953 kommen die Pendler aus Berlin mit brisanten Neuigkeiten nach Hause. In Berlin haben die Arbeiter der Bau-Union die Arbeit niedergelegt und sind zum Ministerrat gezogen. Von Generalstreik ist die Rede. Auch die westlichen Rundfunkstationen verbreiten diese Nachricht.
Zu Beginn der Frühschicht nehmen die Bauarbeiter auf dem Objekt 5 in Eggersdorf bei Strausberg die Arbeit nicht auf. Sie versammeln sich im Kulturraum der „Konsum-Baracke“. Der SED-Parteisekretär versucht, die Kollegen zu beruhigen, wird aber ausgepfiffen. Die Kollegen wählen ein zwanzigköpfiges Streikkomitee. Auch der zwanzigjährige Brigadier Heinz Grünhagen ist Mitglied des Komitees. Die Arbeiter bringen ihre Forderungen zu Papier. Die Stenotypistin der Bauleitung schreibt mit: Freie Wahlen, Rücktritt der Regierung, Absenkung der HO-Preise, Verbilligung der Arbeiterrückfahrkarte. Wie überall mischen sich konkrete soziale Anliegen mit allgemeinen politischen Forderungen.
Während die Forderungen stenografiert werden, kommt ein Kraftfahrer aus dem nahe gelegenen Rüdersdorf zurück. Statt, wie eigentlich geplant, Dachpappe mitzubringen, hat er nur eine Nachricht dabei: Im dortigen Kalk- und Zementwerk wird gestreikt. Zwischen acht und neun Uhr machen sich die Arbeiter mit zehn LKWs auf eine Rundfahrt durch die Betriebe im Umkreis. Auf dem Führungsfahrzeug sitzen die Mitglieder des Streikkomitees.
Von der Bevölkerung wird die LKW-Kolonne begeistert begrüßt. Die Arbeiter rufen im Sprechchor: „Wir wollen Wohnungen, nicht Kasernen.“ Das ist den Leuten aus dem Herzen gesprochen. Denn mit dem Beginn des Ausbaus der Offizierssiedlungen ist der zivile Wohnungsbau eingestellt worden. Überall fordern die Strausberger Bauarbeiter die Belegschaften zur Solidarität auf. In Herzfelde werden von einem der LKWs zwei Pistolenschüsse in Richtung eines PKW mit SED-Funktionären abgefeuert. Zwar kommt niemand zu Schaden, doch der Vorfall spielt im späteren Prozess eine wichtige Rolle.
In Rüdersdorf fordern die Bauarbeiter die Freilassung der politischen Gefangenen, die dort im Kalk- und Zementwerk arbeiten. Es kommt zum Handgemenge mit dem Wachschutz, ein Wachmann wird niedergeschlagen. Da die Arbeiter weitere Gewaltaktionen vermeiden wollen, fahren sie zurück nach Strausberg. Mittags sind sie wieder auf der Baustelle. Die Arbeiter essen zu Mittag und brechen das Tanklager auf, um die Fahrzeuge aufzutanken. Dann machen sie sich auf den Weg nach Berlin. In Hoppegarten, an der zu dieser Zeit noch bewachten Stadtgrenze von Berlin, endet die Fahrt. Soldaten der Roten Armee haben die Zufahrtswege abgesperrt und feuern Warnschüsse ab. Die LKW-Kolonne macht kehrt und fährt nach Hause.
Abends beschließt das Streikkomitee, am nächsten Tag weiterzumachen. Doch dazu kommt es nicht. In der Nacht werden sechs „Rädelsführer“ verhaftet, unter ihnen auch Heinz Grünhagen. Sie werden zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Der Fahrer, der das Streikkomitee gefahren hatte, wird als „faschistischer Provokateur“ steckbrieflich gesucht und flieht in den Westen. Später wird er durch eine fingierte Meldung über den Tod seiner Eltern von der Stasi in den Osten gelockt, festgenommen und abgeurteilt.
Zitierempfehlung: „Eine LKW-Kolonne für die Freiheit - Der 17. Juni 1953 in Strausberg“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145354
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